Radsport:Die Freude an der Qual ist zurück

Lesezeit: 4 min

Ricarda Bauernfeind nach dem Gewinn ihrer ersten Tour-Etappe. (Foto: Jeff Pachoud/AFP)

Mit 23 Jahren ist Ricarda Bauernfeind die jüngste Gewinnerin einer Etappe bei der Tour de France geworden. Dabei hatte sie ihre Karriere vor Jahren schon beinahe aufgegeben - aus Angst, andere zu enttäuschen.

Von Christian Bernhard

Zu Hause ist alles wie immer. Ricarda Bauernfeind räumt im Elternhaus in Eichstätt die Spülmaschine aus und bereitet Salate und Kuchen für ein kleines Grillfest vor. Kochen und Backen ist für sie Regeneration, am liebsten wäre sie auch bei der Tour de France der Frauen nach den Etappen in den Wagen des Teamkochs gestiegen, um ihm behilflich zu sein. Doch dafür war keine Zeit. Die 23-jährige Oberbayerin war zum ersten Mal bei der am vergangenen Sonntag zu Ende gegangenen, legendären Rundfahrt durch Frankreich gestartet, und sie überraschte alle: nicht nur durch ihren neunten Gesamtrang, sondern vor allem mit ihrem Sieg auf der fünften Etappe, nach einem 36 Kilometer langen Solo. Damit ist sie nun die jüngste Etappensiegerin der ebenfalls noch jungen Geschichte der neuen Tour de France der Frauen, die in diesem Jahr zum zweiten Mal ausgetragen wurde. "Mehr als perfekt" sei alles gelaufen, erzählt sie nach drei radfreien Tagen und einer ersten Trainingseinheit, bei der es darum ging, "einfach nur die Beine wieder locker zu kurbeln".

Der Heimataufenthalt, zu dem auch ein Überraschungsempfang gehörte, ist nur ein kurzer. Denn schon am Samstag geht es für sie weiter nach Glasgow, wo die Rad-Weltmeisterschaften stattfinden. Bauernfeind wird dort am 8. August in der Mixed-Team-Staffel und am 13. im Straßenrennen an den Start gehen.

Auch Ronny Lauke ist von ihren jüngsten Ergebnissen "ein stückweit" überrascht. Ihr Teamchef bei Canyon-SRAM Racing wusste um ihr Potenzial, doch dass sie "sogar schon die Allerbesten schlagen kann", sei eine "außergewöhnliche Entwicklung", die man so nicht planen könne. Und die in ihrer Kindheit, in der Ricarda Bauernfeind Ballett, Fußball auf dem Bolzplatz, Reiten und Laufen mit Klavier und Trompete spielen kombinierte, so nicht abzusehen war. "Ich habe immer Action gebraucht", erzählt sie. Das Besondere an Bauernfeinds Geschichte ist aber etwas anderes: 2019 war ihre Karriere fast schon vorbei, noch ehe sie richtig begonnen hatte. Lauke spricht von einer "speziellen Story", die sie mitbringt.

Die trüben Zeiten sind vorbei: Ricarda Bauernfeind, hier bei der Tour, hat die Freude am Radsport zurückerlangt. (Foto: Arne Mill/frontalvision.com/Imago)

Die vielen Medaillen, die heute noch in ihrem Zimmer hängen, verdeutlichen, wie erfolgreich sie in der Jugend war. Trotzdem fühlte sie sich damals bei den Rennen nicht mehr wohl. Der Spaß, die Leichtigkeit, sie waren eines Tages verschwunden. Grund war wohl der riesige Druck, den sie sich machte. Sie habe Angst gehabt, ihr Umfeld zu enttäuschen: die Eltern, die Trainer, die Betreuer. "Ich war super nervös, stand an der Startlinie und habe mich komplett verrückt gemacht, war kurz vor dem Weinen" erinnert sie sich. Sie merkte, so kann es nicht weitergehen. "Ich brauchte etwas Abstand vom Radsport." In einer E-Mail teilte sie dem Frauen-Bundestrainer Andre Korff mit, dass sie sich aus der Nationalmannschaft zurückziehen wolle. Bauernfeind konzentrierte sich fortan auf ihr Lehramtsstudium und fuhr nur kleinere Rennen. Ohne Druck.

Talent lässt sich nicht immer mit Wattwerten messen, weiß ihr Teamchef. "Wir arbeiten ja nicht mit Robotern, sondern mit Menschen."

In den ersten Corona-Monaten trainierte sie viel mit einer virtuellen Trainingsplattform auf der Trainingsrolle im Keller. Als dann wieder Rennen stattfanden, probierte sie es erneut: Bei den deutschen Meisterschaften 2021 in Stuttgart wurde sie Dritte und daraufhin für die U23-Europameisterschaft nominiert. "Dann ging das Ganze wieder von vorne los." Bauernfeind stand vor der Wahl: Wieder zurück in ein Team, oder voller Fokus aufs Studium und nur nebenbei Radfahren? Sie überlegte sehr lange, entschied sich, es noch ein bisschen zu probieren - auch weil sie Angst hatte, es später womöglich zu bereuen, diese Chance nicht ergriffen zu haben. 2022 stieg sie in einem Nachwuchsteam von Lauke ein, in dem sie ohne Druck lernen konnte, in größeren Feldern zu fahren und bei internationalen Rennen, hauptsächlich in Spanien; um einfach wieder in Berührung mit dem Profi-Radsport zu kommen. Das funktionierte so gut, dass sie Ende 2022 bei der Junioren-Weltmeisterschaft zwei Bronzemedaillen gewann und 2023 ins World Team aufstieg. Vor ihrem Tour-Coup hatte sie dann bereits den fünften Gesamtrang bei der spanischen Vuelta eingefahren.

Der Spaß ist zurück. Wie sie es geschafft hat, die Selbstzweifel und mentalen Blockaden zu lösen, weiß Bauernfeind selbst nicht. Sie habe nichts Spezielles gemacht, keine Bücher dazu gelesen oder Ansprechpartner gesucht. "Es kam einfach mit der Zeit." Sie gehe die Sache nun anders an. Nervosität vor den Rennen ist noch da, aber in einem gesunden Maß. "Sie liebt, was sie tut", glaubt Lauke. In Fahrerinnen werde oft Potenzial gesehen, wenn sie "diese und jene Wattwerte treten", erklärt er, "aber wir arbeiten ja nicht mit Robotern, sondern mit Menschen. Und der Mensch muss in die Lage gebracht werden, sein Potenzial umzusetzen und in Leistung umzuwandeln". Bauernfeind musste ihren eigenen Weg finden. Ihr Mut, andere Prioritäten zu setzen, wurde belohnt. Und langsam erkenne sie selbst, "dass sie eine der Besten der Welt werden kann, was Etappenrennen angeht", betont Lauke. Sie bringe die Disziplin und die physischen Voraussetzungen dafür mit - und einen starken Willen.

Im Mittelpunkt steht Ricarda Bauernfeind trotzdem ungern, sie mag es, sich im Hintergrund zu bewegen, "undercove r" unterwegs zu sein, wie sie sagt. An ihrem Selbstbewusstsein könne sie wohl noch arbeiten, erkennt sie selbst, noch immer sei sie eher ein Typ, der an sich zweifelt. Aber sie ist sehr ehrgeizig - und kann sich "richtig gut" quälen: "Wenn die Beine wirklich schmerzen und ich denke, ich kann eigentlich nicht mehr, dann fährt mein Kopf einfach weiter." Der Kopf hat auch abseits der Rennstrecke genügend zu tun. Bauernfeind peilt an, Ende Oktober ihre Bachelorarbeit abzugeben. Langweilig, sagt sie, werde es ihr sicher nicht.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: