Radsport:Die Sehnsucht Frankreichs ist erwacht

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Romain Bardet jubelt über seinen Etappensieg in Peyragudes. (Foto: Philippe Lopez/AFP)
  • Romain Bardet hat nur 25 Sekunden Rückstand auf Fabio Aru, den Führenden im Gelben Trikot.
  • 32 Jahre ist es her, als zum letzten Mal ein Franzose die Tour de France gewinnen konnte.
  • Bardet selbst spricht nun davon, den Favoriten Christopher Froome zu bezwingen.

Von Johannes Knuth, Foix

Romain Bardet hat die Frage zuletzt immer wieder gehört, sie wird jetzt mit jedem Tag öfters an ihn herangetragen. Er empfängt sie mit einem listigen Lächeln. Ob er nicht bedrohlich nahe an einen Gesamtsieg bei dieser 104. Tour de France rücke? Ach, sagt Bardet dann. Mal schauen. Er wolle erst einmal das Jetzt genießen, am Donnerstag zum Beispiel. Da hatte der 26 Jahre alte Franzose gerade die fiese Prüfung zur Skistation Peyragudes gewonnen, er war bis auf 25 Sekunden an den neuen Gesamtführenden Fabio Aru herangekrochen. Und dann, wenn Bardet ein bisschen im verbalen Windschatten gefahren ist, setzt er oft doch noch eine Attacke. Sollten seine Widersacher, der Italiener Aru und der Brite Froome wieder schwächeln, werde er da sein. "Wenn wir das nicht tun", sagt Bardet, "werden wir sie kaum bezwingen können."

Pardon, Chris Froome bezwingen, den Titelverteidiger? Bardet hat damit einen neuen Diskurs in seiner Heimat eröffnet. Er redet nicht mehr von guten Beinen, oder vom Tag-zu-Tag-schauen. Bardet spricht davon, dass er die Tour gewinnen kann, und diese frische Zuversicht stürzt das Land zunehmend in einen Zustand fiebriger Erheiterung.

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Seit 32 Jahren wartet Frankreich auf einen Champion bei der hauseigenen Rundfahrt, gerade liegt die Sehnsucht wieder schwer über dem Land. Selbst dort, wo man es nicht erwartet. Auf einem Rastplatz an der Autobahn 64 hinter Pau, rechts geht es in die Pyrenäen, haben sie ein Denkmal hochgezogen. Eine Eisenkonstruktion, die wie ein haushohes S in den Himmel ragt. Eiserne Radfahrer kriechen die geschwungenen Kurven hinauf, die Kehren sind viel zu steil, um mit einem Rad bezwungen zu werden. Andererseits: War das nicht stets das, was die Franzosen an ihrer Tour faszinierte? An dieser "grausamem Prüfung für Körper und Geist", wie ihr Urheber Henri Desgranges befand?

"Attacke und Unruhe, das ist unser Markenzeichen", sagt Bardets Sportdirektor

Vor dem Denkmal erstreckt sich eine langgezogene Tafel, sie erzählt die Geschichten von Frankreichs Helden. Eugène Christophe etwa, Spitzname "Vieux Gaulois", der alte Gallier. Er kroch 1913 als Erster über den Tourmalet, in der Abfahrt brach die Radgabel. Christophe trottete 14 Kilometer zur nächstgelegenen Schmiede, wo er zwei Stunden sein Rad reparierte, fremde Hilfe war verboten. Die Jury drückte ihm am Ende trotzdem eine Strafminute auf, weil ein Knabe den Blasebalg bedient hatte. Dann kommen die Nachkriegsjahre, Jean Robic, Spitzname Zicklein, Sieger 1947. Jacques Anquetil, Mister Zeitfahren, der Erste, der die Schleife fünf Mal gewann. Bernard Hinault, der clevere Dachs, der 1985 zum fünften Mal Rundfahrten gewann. Seitdem wartet Frankreich. Hinault sei "der letzte in der Linie der Supergroßen", steht auf der Tafel.

Das ist die Erblast, unter der seit 32 Jahren noch jeder Emporkömmling zusammenbrach. Aber Bardet wirkt in diesen Tagen erstaunlich gefasst. "Ich habe keinen Vertrag mit meinem Vaterland", sagt er; als Hinault gewann, war er ja noch nicht geboren. "Das ist nicht meine Geschichte", findet er. Seine eigene geht so: Geboren 1990 in der Auvergne, ausgebildet am Leistungszentrum seiner Equipe AG2R in Chambéry, nebenbei Studium der Wirtschaftswissenschaften. Er ist seit 2012 Profi, im Jahr darauf wurde er schon 15. bei der Tour, 2014 Sechster. 2015 gewann er seine erste Etappe in den Bergen, vor einem Jahr wurde er Zweiter hinter Froome, zudem gewann er eine Etappe in den Alpen. Er hatte dort attackiert, wo es nur wenige wagen, weil es ohnehin schon verrückt genug ist: in der Abfahrt.

Bardet ist 1,85 m groß und zarte 67 Kilogramm leicht, wenn er einem im Hotel über den Weg läuft, möchte man ihn spontan zu Huhn, Weißkohleintopf und Gänseleberpastete einladen, Spezialitäten der Pyrenäen. Aber Bardet ist bekannt für seine Lust am Risiko, das mögen die Franzosen. Wie bei Jean Robic, dem Zicklein, der 1947 auf der letzten Etappe attackierte, was schon damals unschicklich war. Aber Robic gewann die Tour. Auch Bardet möchte "die Essenz aus allen Etappen hervorholen", wie er es nennt.

Auf der neunten Etappe nach Chambéry attackierte er in einer der gefährlichen Abfahrten, Froome fing ihn gerade noch so ein. Bei Tempo 80 den anderen davonzufahren, das könne man nicht lernen, sagte Julien Jurdie danach, Bardets Sportdirektor. Dieser Mut sei angeboren, oder eben nicht. Am Donnerstag sprang Bardet den Favoriten auf der letzten Rampe davon, Froome fuhr "wie ein zitternder Gaukler auf einem zu großen Dreirad" hinterher, schrieb L'Équipe.

Auch Bardet weckt Zweifel, wie Froome und Aru. Antoine Vayer, ein ehemaliger Trainer des dopingumwitterten Team Festina, analysiert seit Jahren mit einer (nicht unumstrittenen) Methode die Wattwerte der Fahrer, und kaum einer habe sich so massiv verbessert wie Bardet, befand Vayer vor einem Jahr. Frei übersetzt: etwas zu massiv für sein Alter. In Peyragudes kam es zu einer weiteren Debatte, Bardet griff sich kurz vor dem Ziel eine Trinkflasche, wie Rigoberto Urán und George Bennett; das ist verboten. Urán und Bennett wurden um 20 Sekunden zurückversetzt, Bardet kam davon. Am Tag darauf nahm die Jury alle Sperren zurück, die Fahrer hätten sich an der Stelle doch verpflegen dürfen.

Weil sich die Favoriten bei der 101 Kilometer kurzen Kraxelei am Freitag neutralisierten - der Franzose Warren Barguil gewann am Nationalfeiertag - liegen nun vier Fahrer binnen 35 Sekunden: Aru, Froome (sechs Sekunden zurück), Bardet (25) und Urán (35). So spannend war es schon lange nicht mehr. Es könnte also schlechter laufen für Bardet. Die Berge sind in diesem Jahr steiler und kürzer, die Abfahrten knifflig, dort kann er ein Guthaben erwirtschaften bis zum letzten Zeitfahren, das er nicht mag. Sie haben im Team diesmal alles auf die Tour ausgerichtet, sie fahren auch anders als Froomes Sky-Auswahl, die das Tempo hochhalten und so Attacken ersticken. Ag2R bevorzugt "Attacke und Unruhe, das ist unser Markenzeichen", sagt Sportdirektor Jurdie. Und Bardet wird versuchen, sie alle zu bezwingen.

© SZ vom 15.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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