Radsport:Eine Dreiecksbeziehung mit Überraschungen

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"Sehr surreal, gleich so einzusteigen": Antonia Niedermaier bei der WM in Schottland. (Foto: Adrian Dennis/AFP)

In ihrer gesamten Radsportkarriere kommt Quereinsteigerin Antonia Niedermaier erst auf 45 Renntage, Mitte Juli stürzte sie schwer - nun ist sie U23-Weltmeisterin im Zeitfahren. Und eine Repräsentantin des aufstrebenden Frauen-Radsports.

Von Christian Bernhard

Mit den Namen und Gesichtern tut sich Antonia Niedermaier immer noch schwer. "Es sind so viele Mädels", sagt sie lächelnd, das werde wohl noch ein Weilchen dauern. Die anderen Radrennfahrerinnen lachen sie immer wieder aus, wenn sie eine Konkurrentin wieder einmal nicht zuordnen kann. Doch die Bad Aiblingerin kann sich sicher sein, dass die anderen sie jetzt auf dem Schirm haben.

Niedermaier hat sich vergangene Woche zur U23-Rad-Weltmeisterin im Zeitfahren gekürt - und das als 20-Jährige. "Außergewöhnlich gut" sei das, sagt ihr Canyon-Teamchef Ronny Lauke, man könne das nicht hoch genug bewerten. In der Frauen-Wertung - das U23-Rennen war im Rahmen des Frauen-Wettbewerbs in Schottland ausgetragen worden - belegte sie den elften Platz. Es fühle sich "sehr surreal an, gleich so einzusteigen", erzählt sie in der Woche nach dem großen Triumph, die sie zuhause verbrachte, mit ihrem Freund und Hund, viel in den Bergen unterwegs, um runterzukommen und den Kopf frei zu kriegen.

Surreal deshalb, weil Niedermaier erst seit zweieinhalb Jahren Radrennen fährt. Sie ist eine Quereinsteigerin und kommt aus dem Skibergsteigen, wo sie auch schon Junioren-WM-Bronze gewonnen hat. In ihrer gesamten Radsportkarriere kommt sie erst auf 45 Renntage - verschwindend wenig im Vergleich zur Konkurrenz. Trotzdem hat sie in ihrem ersten Jahr als World-Tour-Fahrerin nicht nur den U23-WM-Titel geholt hat, sondern auch die Königsetappe beim Giro d'Italia gewonnen.

Niedermaier hat in sehr kurzer Zeit sehr viel gelernt - und doch merkt sie immer noch, dass sie einiges aufzuholen hat. Gerade was das Fahren im Feld betrifft, das Gefühl für die Dynamik im Pulk, habe sie ein "extremes Defizit den anderen gegenüber", sagt sie. Auch Lauke weist darauf hin, dass sie nach wie vor nicht so viel Erfahrung habe, "wie man es sich eigentlich von einer 20-Jährigen wünscht".

"Wie Antonia damit umgeht, diese Rückschläge verarbeitet, das ist schon Wahnsinn", sagt Teamchef Lauke

Dazu kamen körperliche Probleme. Im Februar musste sie sich einer Knie-Operation unterziehen, was ihre Saison-Vorbereitung beeinträchtigte - und dann kamen die Stürze. Erst zwei im Frühsommer, dann ein schwerer Mitte Juli beim Giro d'Italia. Sie wurde mit dem Krankenwagen abtransportiert, Zähne mussten wieder eingesetzt werden. Die Schiene im Mund, die aufblitzt, wenn sie lächelt, erinnert noch daran. Eine Woche rührte sie nach dem Sturz das Rad nicht an, wodurch sie sich nur zwei Wochen auf die WM vorbereiten konnte.

Zu den körperlichen Schrammen gesellten sich psychische: Wie verkraftet eine junge Fahrerin, mit so wenig Erfahrung, solch einen Sturz? "Die Psyche war angeknackst", erzählt sie, mental habe sie "ganz schön gestruggelt". Normalerweise kommen nach solchen einschneidenden Ereignissen Selbstzweifel auf, erklärt Lauke, diese können sogar "karrierebeeinflussend" sein. Nicht aber bei Niedermaier. Wie sie auf den schweren Sturz reagierte, "habe ich bei einer Fahrerin noch nicht erlebt", sagt er. "Wie Antonia damit umgeht, diese Rückschläge verarbeitet, das ist schon Wahnsinn" - es setze eine starke Mentalität voraus.

Antonia Niedermaier bei der Siegerehrung in Schottland. (Foto: Stefano Sirotti/Imago)

Da sie auch am Berg stark ist, hat sie für Lauke das Potential, "eine der führenden Rundfahrerinnen zu werden". Das gilt auch für Ricarda Bauernfeind aus Eichstätt, die so wie Niedermaier auch nach einem Jahr in Canyons Nachwuchsteam dieses Jahr eine bemerkenswerte erste World-Tour-Saison fährt. Die beiden Bayerinnen sind die frischesten Gesichter der aufstrebenden deutschen Frauen-Straßenradbewegung. "Ein Glücksgriff ist schon sehr selten, aber dass man gleich zwei in einer Saison hat, ist eine geile Geschichte", frohlockt Lauke. Niedermaier ist sich bewusst, dass sie trotz ihres jungen Alters schon eine der Repräsentantinnen des deutschen Frauen-Radsports ist und dass "auch durch Ricarda und mich eine neue Zeit anbricht". Ihre Rolle als Vorbild gefällt ihr. Es sei schön zu wissen, dass viele junge Mädchen nachkommen "und sich denken: Ach cool, ich kann auch so werden wie sie."

2026 möchte sie bei den Winterspielen in Mailand im Skibergsteigen dabei sein

Durch ihr starkes Zeitfahren bei der WM in Glasgow hat sie sich auch ins Blickfeld für Olympia 2024 in Paris gerückt. Lauke wäre nicht überrascht, wenn das für Niedermaier bereits Realität würde. In jenem Fall würde sie ihren Olympiatraum zwei Jahre früher als gedacht realisieren, denn 2026 möchte sie bei den Winterspielen in Mailand im Skibergsteigen dabei sein. Ihr "zweigleisiges" Fahren, wie Lauke es nennt, war von Anfang an abgesprochen. "Ich bekommen viele Freiheiten vom Team und bin nicht so gebunden wie die anderen", erzählt sie. Für Lauke ist es eine "Dreiecksbeziehung" zwischen ihr, den Rad-Teamtrainern und ihrem Heimtrainer Dan Lorang, der das Training koordiniert. Lorang ist ein großer Trainer-Name im Ausdauersport, er betreut die Triathlon-Stars Jan Frodeno und Anne Haug und ist Performance-Chef beim deutschen Team Bora-Hansgrohe. Niedermaier arbeitet seit mehr als vier Jahren mit ihm zusammen.

Für Niedermaier geht es kommende Woche mit der Tour de l'Avenir in Frankreich weiter, Ende September geht ihre erste Profi-Radsaison zu Ende. Dann stehen zwei, drei Wochen Pause an, in denen sie sich vermehrt um ihr Kindheitspädagogik-Studium kümmern kann, ehe es mit dem Skibergsteigtraining weiter geht. Lauke sagt, er sei neugierig und gespannt, "wie oft sie uns noch überraschen wird".

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