Der deutsche Fußball hat Tobias Rau fast vergessen. Das ist schade, denn Rau war ein ungewöhnliches Exemplar der Spezies Profifußballer. Er hat mit 27 seine Karriere beendet, das war im Jahr 2009, er hat angefangen, fürs Lehramt zu studieren, Sport, Erziehungswissenschaften, Biologie. Tobias Rau könnte aber auch viel über Geschichte erzählen, jedenfalls über die Geschichte der Sportart, die mal seine war.
Tobias Rau ist ein Zeitzeuge jenes finsteren Mittelalters, das im deutschen Fußball etwa ein Dutzend Jahre zurückliegt. Er war dabei im Juni 2003, als sich eine deutsche Nationalelf bei ihrem bis dahin letzten Auftritt im Glasgower Hampden Park mit Mühe zu einem 1:1 wörnste, jeremieste und ramelowte. Einmal, nach einer schottischen Grätsche im Mittelfeld, ist der kleine Rau so lange durch die Luft geflogen, dass er gerade noch rechtzeitig landete, um Jahre später ein Lehramtsstudium beginnen zu können.
Tobias Rau kann erzählen, wie das war, wenn deutsche Fußballer damals auf die Insel flogen. Was die Deutschen hatten, war: Angst vor der britischen Härte und Mentalität. Was sie nicht hatten, war: die Gewissheit, dass sie wenigstens die viel besseren Fußballer sind.
Das Beste aus beiden Welten gemischt
Geschichtsstunden wie diese helfen, die Gegenwart besser zu verstehen. Joachim Löws 2015er-Elf hat sich im Hampden Park zwar ebenfalls mehr Mühe geben müssen als erwartet, aber das Spiel wörnste an keiner Ecke. Ein Jahr lang sind die Weltmeister ein wenig durch die Nationalelf getingelt, aber pünktlich zur entscheidenden Phase haben sie sich mit einem historisch bemerkenswerten Stilmix zurückgemeldet.
DFB-Spieler Thomas Müller:Der die Bälle riecht
Aus null Chancen macht Thomas Müller gegen Schottland zwei Treffer: Seit der FC Bayern ein horrendes Angebot von Manchester United ablehnte, hat der Stürmer seine Quote noch gesteigert.
Eine Weile stand Löws Elf ja unter dem Anfangsverdacht, ein Schönwetter-Team zu sein, das zusammenzuckt, wenn der Gegner ein böses Gesicht schneidet oder ein Schotte zur Grätsche ansetzt. Aber in den Champions-League- und WM-Arenen hat diese Generation inzwischen eine Wehrhaftigkeit ausgebildet, die das Beste aus beiden Welten mischt.
Die bittere Sentenz des Engländers Gary Lineker ("Und am Ende gewinnen immer die Deutschen") bestätigt die DFB-Elf inzwischen in einer völlig neuen De-luxe-Version. Sie gewinnen nicht mehr, weil sie das Glück auf ihre Seite rumpeln. Sie gewinnen jetzt, weil sie sich ihrer Kunst so sicher sind, dass sie im Spiel von keinem Rückschlag zu kränken sind. Sie gewinnen, weil sie einfach so lange weiter spielen, bis sie die Lösung gefunden haben.
Die Mannschaft ist gerade dabei, dieselbe Entwicklung durchzumachen wie ihr Trainer. Auch Löw galt manchen als Schönwetter-Coach, aber seit er sich im WM-Spiel gegen die USA unerschrocken die Frisur vollregnen ließ, darf er auch mitten im Spiel die Nägel feilen.