Paralympics:Die Zeit der Zeichensetzer

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Charakterköpfe: Rollstuhlbasketballerin Mareike Miller und Bahnradfahrer Michael Teuber werden die deutsche Fahne bei der Paralympics-Eröffnung tragen. (Foto: Stephanie Wunderl/imago, Gregor Fischer/dpa)

Die deutsche Mannschaft zieht mit Vorfreude und Dankbarkeit in die um ein Jahr aufgeschobenen Paralympics in Tokio, die für die Akteure vielleicht noch ein bisschen wichtiger sind als Olympia für ihre Kollegen.

Von Thomas Hahn, Tokio

Am Tag vor der Eröffnungsfeier wurden in der deutschen Paralympics-Mannschaft die Geschenke für große Verdienste verteilt. Genauer gesagt die Ehre, beim Einzug der Nationen ins große Nationalstadion von Tokio die Fahne tragen zu dürfen. Die Wahl kann der Mannschaftsleitung um Chef de Mission Karl Quade und Friedhelm Julius Beucher, den Präsidenten des deutschen Para-Sportverbandes DBS, nicht leicht gefallen sein. Aber das Ergebnis überzeugte. Mareike Miller, 31, Aktivensprecherin, Stütze der Rollstuhlbasketballerinnen und als solche Silbermedaillengewinnerin von Rio 2016, sowie der Radsportler Michael Teuber, 53, fünfmaliger Paralympics-Sieger, zum sechsten Mal dabei, dürfen die Mannschaft gemeinsam anführen. Beide waren einverstanden und freuten sich sehr. "Es ist eine Krönung", sagte Michael Teuber. Und Mareike Miller konnte berichten, dass ihre Ernennung auch bei den Kolleginnen gut angekommen sei. "Meine Mannschaft hat mir zugejubelt", sagte sie.

Es geht also tatsächlich los nach dem einjährigen Aufschub wegen Corona. Vorfreude und Dankbarkeit sind zu spüren unter den Sportlerinnen und Sportlern, vielleicht auch etwas mehr Erleichterung als vor vier Wochen unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Olympischen Spiele. Das Selbstbewusstsein der paralympischen Gemeinde ist zwar gewachsen in den vergangenen Jahren. Die Paralympics haben sich immer wieder als die ehrlicheren und sportlicheren Spiele erwiesen. Aber natürlich haben die Protagonisten des sogenannten Behindertensports nicht vergessen, dass das teurere, einträglichere, mehr beachtete Ereignis die Olympischen Spiele sind. Hätte es nicht sein können, dass die Tokioter Veranstalter nach Olympia die kleineren Spiele kurzfristig absagen? Gerade jetzt, da die Corona-Welle, die Japan während Olympia erreichte, die Krankenhäuser des Landes mehr denn je beschäftigt?

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Ernsthaft im Gespräch war eine Absage der Paralympics in den zwei Wochen seit der olympischen Schlussfeier allerdings nie, und nun sind sie also da. Die paralympische Welt ist noch nicht so verwöhnt vom Glanz des Profisports, deshalb sind die Spiele hier den Athletinnen und Athleten möglicherweise noch ein bisschen wichtiger als den Olympioniken deren Spiele. Michael Teuber spürt jedenfalls eine neue Qualität der Anspannung. "Ich habe das Gefühl, dass sich noch mehr Emotion aufgestaut hat", sagt er.

Prothesen-Springer Markus Rehm ist der Star im Team - andere Erfolgsgaranten haben abgesagt

Wozu das dann führt in den Wettkämpfen? Chef de Mission Karl Quade neigte noch nie zu strammen Vorgaben. Die paralympische Welt kann sich binnen vier Jahren sehr verändern. Wegen der Wettkampfabsagen in der Pandemie wissen die Deutschen jetzt noch weniger über die anderen Teilnehmer als ohnehin schon. Weil wegen der Lockdown-Phasen teilweise das Training nicht stattfinden konnte, hat außerdem die Vorbereitung gelitten. "Das war nicht in allen Ländern so", sagt Karl Quade. Und die Mannschaft sieht ein bisschen anders aus als jene, die im vergangenen Jahr zu den Paralympics gereist wäre. Manche Karriere hat die Verschiebung nicht ausgehalten. Die von Christiane Reppe zum Beispiel, früher Bronzemedaillen-Gewinnerin im Schwimmen, 2016 Paralympics-Siegerin im Handbike-Fahren. "Sie hat ein sehr gutes berufliches Angebot bekommen und musste sich entscheiden", sagt Karl Quade. Sie entschied sich gegen das Weitermachen im Sport. Andere bekamen durch die Verschiebung überhaupt erst die Chance, ins Team zu kommen. Leichtathletin Lise Petersen zum Beispiel, 16, die jüngste Deutsche im Tokio-Team. "Die wäre ja im vergangenen Jahr im Leben nicht mitgefahren", sagt Quade.

Was also kann diese Mannschaft? 134 Sportlerinnen und Sportler sind dabei, 14 weniger als vor vier Jahren. Viele Neulinge, diverse Teenager. Zum ersten Mal ist der DBS auch im Para-Klassiker Boccia vertreten, durch Boris Nicolai aus St. Ingbert. Andere haben die Qualifikation im reiferen Alter geschafft: die Dressurreiterin Heidemarie Dresing etwa, Paralympia-Debütantin mit 66 Jahren. Altgediente wie Teuber sind dabei, oder wie die blinde Rollstuhl-Speerwerferin Martina Willing, 61, die ihre ersten Paralympics vor 29 Jahren in Barcelona erlebte. Einen echten Star gibt es auch in der Mannschaft: den Leverkusener Prothesenweitspringer Markus Rehm, der vor allem in Japan hoch verehrt wird. Dafür haben wieder andere Erfolgsgaranten absagen müssen oder wollen. Medaillenprämierte Leute wie Birgit Kober, Hans-Peter Durst, Naomi Schnittger. "Gemischt" nennt Karl Quade das Team und will keine Erwartungen in Zahlen ausdrücken.

"Wir wollen hier natürlich sportlichen Erfolg haben", sagt er, "wozu das dann reicht, muss man sehen." Bestleistungen interessieren ihn vor allem, ein Platz unter den ersten Zehn im Medaillenspiegel, "da wollen wir schon hin". Darüber hinaus hat der DBS noch ganz andere Sorgen als Medaillen bei Paralympics. Die Nachwuchsförderung. Bessere Leistungssportstrukturen in Verbänden, die Para-Sport noch zu sehr auf Reha-Übungen reduzieren. Mehr Vereine zur Inklusion bewegen. Die Menschen mit Behinderung in Bewegung bringen. Talente finden, die vielleicht noch gar nicht wissen, dass sie Talente sind. "Wir müssen von unten Nachwuchs bringen", sagt Karl Quade, "das ist weiterhin eine Baustelle bei uns, das ist in vielen Sportarten zu dünne."

Es wird eine Show, die Zeichen setzen soll. Die Paralympics sind ein Ereignis, das Augen öffnen und Zuschauer auf neue Gedanken bringen kann. Es gibt viele Geschichten zu erzählen. Medaillen sind nur ein Aspekt. Und an diesem Dienstag muss ohnehin erst mal die Fahne richtig getragen werden.

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