Paralympics:Sein zweiter Winter

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Alexander Ehler war in seiner Jugend ein erfolgreicher Biathlet, dann hatte er einen Motorradunfall und sein Bein wurde verkürzt, er hörte auf mit dem Sport. Nun, mit 48, startet er bei seinen ersten Paralympics.

Von Sebastian Fischer

Manchmal sieht er aus wie ein Athlet aus einer vergangenen Zeit. Als hätte man ihn eingefroren, damals in den Achtzigerjahren, und im Jahr 2018 wieder aufgetaut. Beim Langlauf macht er große Schritte, schwingt mit dem Oberkörper weit nach vorne. Dabei läuft man heute eigentlich kurz und kraftvoll. Vor den Rennen hustet er manchmal, obwohl er nicht erkältet ist. Macht die Bronchien frei, haben sie ihm früher gesagt.

Die Geschichte von Alexander Ehler, 48, hat nichts mit Science-Fiction zu tun, er hat natürlich nicht fast 30 Jahre im Eis gewartet. Ehler, als junger Mann ein talentierter Biathlet, hat bloß fast 30 Jahre lang andere Sachen zu tun gehabt, so sieht er das. Und er hat nie geahnt, dass er sich seinen Traum von Olympia noch erfüllen könnte, trotz des Motorradunfalls als 19-Jähriger, nachdem ihm die Ärzte neun Zentimeter seines rechten Oberschenkels entfernten.

Seit rund einem Jahr ist Alexander Ehler wieder Biathlet und Langläufer. Er startet für Deutschland bei den Paralympics in Pyeongchang, die an diesem Freitag beginnen. "Mein Kindheitstraum ist erfüllt", sagt er. Seine Geschichte handelt von großem Talent, einer unverhofften zweiten Chance und dem jugendlichen Ehrgeiz eines 48-Jährigen. Und sie erzählt, auf welch verschlungenen Wegen der paralympische Sport oft seine Protagonisten findet.

"Vom Kopf her ist er wie ein 18-Jähriger, der Bäume ausreißen will."

Ehler wurde in Leninogorsk geboren, im heutigen Ridder im Osten Kasachstans. Wenn er von seiner Kindheit spricht, dann erzählt er von Kühen und Schweinen auf dem Hof der Familie, und er erzählt vom Sport, den er liebte. Er begann als Achtjähriger mit dem Langlauf, als Biathlet wurde er kasachischer Jugendmeister, Fotos zeigen ihn auf dem Siegerpodest. Die Qualifikation für die Olympischen Spiele 1992 in Albertville war sein Ziel.

Doch bevor seine Laufbahn als Sportler richtig starten konnte, kam der Unfall. Seine Frakturen waren nicht so dramatisch, aber der Knochen entzündete sich, die Operation war unausweichlich. Ehler hakte seinen Traum ab. Spätestens nachdem er 2000 mit seiner Frau und zwei Töchtern nach Deutschland zog, erst nach Hamburg und später nach Emmendingen im Breisgau, stieg er jeden Winter nur noch ein paar Mal zum Spaß auf Langlaufskier.

Ehler spricht Deutsch in einfachen Sätzen. Er sagt: "Ich habe zwei Kinder, sie brauchten mich einfach jeden Tag." Ehlers Töchter waren talentierte Fechterinnen, er trainierte mit ihnen, fuhr sie zu Wettkämpfen. Inzwischen sind sie 23 und 24. "Jetzt hatte ich Zeit. Jetzt wollte ich anfangen."

"Mein Kindheitstraum ist erfüllt": Alexander Ehler, hier beim Weltcup in Canmore/Kanada im Dezember 2017, geht in Pyeongchang in fünf Einzelrennen an den Start, zweimal im Langlauf, dreimal im Biathlon. (Foto: Pam Doyle/oh)

Ehler wohnt eine Autostunde entfernt von der Loipe im Notschrei, einem Gebirgspass im Südschwarzwald, wo Kaderathleten des Deutschen Skiverbands trainieren, auch der Deutsche Behindertensportverband (DBS) nutzt die Anlage. Ehler kannte einen russischen Trainer, der vermittelte, und so fuhr er im Januar 2017 einfach mal hin. Er wusste nichts von Behindertensport, er dachte nicht an die Paralympics.

"Wir sind eigentlich davon ausgegangen, dass es in Richtung Breitensport geht", sagt Michael Huhn, sein Trainer. Aber: "Wir sind die ersten Runden gelaufen, da wurde relativ schnell klar, dass er mehr drauf hat." Huhn empfahl ihm, professionell zu trainieren, vielleicht gehe da noch was. Ehler, von Beruf Haustechniker, bat seinen Arbeitgeber um Unterstützung. Er trainierte dann bald sechsmal die Woche. Sie mussten ihn bremsen, sagt Huhn, damit er auch mal eine Pause einlegte. Mit 48 dauert das Regenerieren ja länger. "Vom Kopf her ist er wie ein 18-Jähriger, der Bäume ausreißen will. Er hat eine Motivation, eine Begeisterung, wie ich es in dem Alter noch nicht erlebt habe."

In den Stunden auf der Loipe sprach Huhn viel mit Ehler, er erklärte ihm die Welt des Behindertensports, und er hörte zu, wenn Ehler erzählte, vom harten Training in der früheren Sowjetunion, gefrorenen Händen bei -20 Grad. Sie sprachen auch über Doping. Ehler findet es gut, dass Russen als neutrale Athleten dabei sind in Südkorea, "nicht alle sind schuldig", sagt er. Huhn erzählt, als Ehler Tabletten gegen Magenschmerzen nehmen musste, habe er immer wieder nachgefragt, ob er das wirklich dürfe. Sie sprachen darüber, dass er sich auf der Loipe wieder jung fühlt.

Was in diesem Winter passierte, die ersten Rennen, die Erfüllung der Norm, Weltranglistenplatzierungen in den Top 20, die Nominierung, fasst Ehler in drei Worten zusammen: "Und dann: geklappt." Er muss selbst lachen, wie simpel das klingt.

Beim DBS freuen sie sich über Ehlers Geschichte, weil sie die Notwendigkeit zeigt, in der Öffentlichkeit dafür zu werben, Menschen mit Behinderung den Sport nahzubringen, egal welchen Alters. Die andere Lesart ist jedoch: Sie sind auf solche Geschichten angewiesen. 20 Athleten sind für Deutschland in Pyeongchang, sieben mehr als 2014 in Sotschi, 15 Einzelsportler und fünf Curler. Die Strukturen im Behindertensport sind professioneller geworden, wer sich für den Sport entscheidet und erfolgreich ist, wird unterstützt, für den Nachwuchs gibt es Elite-Förderung. Doch die Sichtung neuer Athleten ist noch ausbaufähig. Wie Menschen mit Behinderungen zu seinem Sport finden, sei derzeit "eher Zufall" sagt Monoskifahrer Georg Kreiter. Und die herausragende Winter-Paralympionikin Anna Schaffelhuber, Gewinnerin von fünf Goldmedaillen in Sotschi, die als eine von drei paralympischen Wintersportlerinnen vom Bundesfinanzministerium mit bis zu 2500 Euro im Monat unterstützt wird, forderte im Münchner Merkur ein besseres System: "Wenn ich unseren aktuellen Nachwuchs sehe, sehe ich extrem schwarz. Sollten theoretisch nach den Spielen alle aufhören" - sie meinte alle, die in Pyeongchang am Start sind - "gäbe es kein deutsches Team mehr. Da muss man eine Linie finden, eine Struktur."

Karl Quade, der Chef de Mission der deutschen Mannschaft, widerspricht ihr nicht. "Wir haben sehr unterschiedliche Zugänge zum Sport", sagt er, nicht unbedingt eine Linie. Es ist ein ständiges Thema im Behindertensport, mehr Engagement in den Landesverbänden und den Vereinen anzumahnen, noch mehr hauptamtliche Trainer, gerade auch in material- und reiseaufwendigen Wintersportarten; ein Klub wie Bayer Leverkusen, der seine Leichtathleten zu Besuchen in Krankenhäuser schickt, um Unfallpatienten über Sportangebote zu informieren, ist eher die Ausnahme. Doch von purem Zufall will Quade nicht sprechen, dafür hat sich zu viel getan.

Für ihn sind es die 15. Spiele, dreimal war er selbst als Sportler dabei, zwölf Mal als Funktionär. Er hat Zeiten erlebt, in denen Behindertensport in der Öffentlichkeit kaum stattfand. Inzwischen senden ARD und ZDF aus Pyeongchang wie selbstverständlich mehr als 65 Stunden live. Für Athleten, deren Interesse geweckt ist, gibt es Schnupperkurse, Talenttage, "Jugend trainiert für Paralympics". Und manchmal, sagt Quade, sei eben auch Glück dabei.

Alexander Ehler startet am Samstag im Biathlon-Sprint, geplant sind fünf Einzelstarts, zwei davon im Langlauf. Seine Töchter werden da sein. "Sie wollen natürlich Papa angucken", sagt Ehler und lacht. Ihren Vater, den Biathleten, kannten sie bis vor Kurzem ja nur aus Erzählungen.

© SZ vom 08.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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