Der fünfmalige Florett-Weltmeister Peter Joppich begann schon im zarten Alter von fünf Jahren mit dem Fechten, Degen-Spezialistin Britta Heidemann zumindest als 14-Jährige - vier Jahre später war sie Junioren-Europameisterin. Steile Karrieren. Zeitlupen-Biografien indes, wenn man sie mit der Highspeed-Vita von Rollstuhlfechterin Denise Hutter vergleicht. Denn die 23-Jährige führt Säbel, Degen und Florett erst seit zweieinhalb Jahren, ist aber bereits vielfache bayerische und deutsche Meisterin, neuerdings auch Weltmeisterschafts-Sechste. Eine Entwicklung, so erstaunlich wie die Platzierung selbst.
"Das war der Hammer. Eine richtig starke Leistung von Denise", lobt Bundestrainer Alexander Bondar seine Athletin. Im Oktober hatte sie bei der Weltmeisterschaft im italienischen Terni die dreimalige Paralympics-Siegerin Saysunee Jana aus dem Wettbewerb gefochten. Denise wer? Die Athletin aus Fürstenfeldbruck war bisher nicht auf dem Zettel der internationalen Gemeinde der Rollstuhlfechterinnen - ein Wettbewerbsvorteil.
"Sie ist eine besondere Athletin", sagt auch ihr Säbeltrainer Marc Münster vom KTF Luitpold München, als Standfechter früher erfolgreich in Italiens erster Liga. "Sie lernt extrem schnell. So etwas habe ich davor nie erlebt." Hutter sitzt neben ihm, hört zu, lächelt, mag gar nicht so viel Lob hören. Hinter ihr hängen zwei überlebensgroße Poster, von denen zwei internationale Fechterinnen auf Hutter herabblicken, obwohl man längst auf Augenhöhe ist. Davor der Spind mit all der Kleidung, den Protektoren und Masken: Trainingsfläche in Werk 1.4 hinter dem Münchener Ostbahnhof, Untergeschoss, graue Betonwände. Eine Atmosphäre, die das Training kompromisslos aufs Fechten beschränkt, ein Ort, an dem große Sportkarrieren beginnen können.
Denise Hutter zupft ihre Jacke zurecht und wechselt in ihren Wettkampfrollstuhl, der wie der Rollstuhl ihres Gegenübers fest auf einem Schienensystem verankert ist. Der Abstand der beiden ist fix, orientiert an den Armreichweiten. Jede Aktion ist somit auf Oberkörper und Kopf reduziert. Kampfentscheidend sind Stabilität im Rumpf, Schnellkraft im Arm und das Tempo im Gehirn. "Dynamischer Hochgeschwindigkeitssport ist das", sagt Bundestrainer Bondar. So schnell offenbar, dass ihn die deutsche Öffentlichkeit bislang kaum wahrnimmt. Dabei ist Rollstuhlfechten bereits seit 1960 paralympisch. "Wir haben bundesweit nur etwa zehn aktive Vereine mit 40 bis 45 Athleten" beklagt Bondar. "Neun davon fechten im Bundeskader." Wenige Athleten, keine mediale Aufmerksamkeit, kaum Sponsoreninteresse - die undankbare Verkettung, die sich so oft im Sport zeigt.
"Sie ist eine Angriffsfechterin", sagt Dominik Nagel, Hutters Entdecker und Trainer im Fecht-Club Gröbenzell
Hutter begibt sich in ihre Ausgangsstellung. Hier ein Stoß, dort ein Hieb, es geht blitzschnell, eine Herausforderung fürs Zuschauer-Auge. "Sie ist eine Angriffsfechterin", sagt Dominik Nagel, Hutters Entdecker und Trainer im Fecht-Club Gröbenzell, ihrem Heimatverein. "Ja, Geduld ist nicht meine Stärke", sagt sie. Deshalb ist der Säbel zu ihrer Parade-Waffe geworden. Er zwingt zur konsequenteren und schnelleren Entscheidung als der Degen.
Konsequent muss Denise Hutter immer sein, ihr Leben will es so. Schon bevor sie ein furchtbarer Sturz von der Treppe in den Rollstuhl zwang, wurde Asperger bei ihr diagnostiziert. Damals war sie 16, ein Kampf gegen Vorurteile und Einschränkungen begann. Heute ist der Autismus der Motor ihres immensen Lerntempos. "Ich bin unermüdlich", sagt sie über sich. Florett- und Degentrainer Nagel nennt es Fleiß, Willen und Selbstbewusstsein.
Nagel war es, der Denise Hutter im Frühjahr 2021 entdeckt und für das Fechten gewonnen hatte. Er besuchte nach seiner Hüftoperation dieselbe ambulante Reha wie sie. "Ich habe gesehen, wie sie es geschafft hat, ohne Krücken ins Auto zu kommen." Also fragte er sie, ob sie Sport machen würde. Hutter war perplex: "Warum spricht mich ein älterer, humpelnder Mann an? Auch hat er gleich von der deutschen Meisterschaft und den Paralympics geredet."
Schon zwei Monate später fuhr sie mit ihrem Rollstuhl über die Planche. Für Hutter war es mehr als ein Start in einen neuen Sport, "es war der erste Lichtblick für mich. Das erste Mal, dass mein Rollstuhl als Stärke gesehen wurde". Die medizinische Diagnose relativierte sich: Spastische Tetraparese steht in ihrer Akte, eine Betroffenheit aller Extremitäten. Doch der rechte Arm blieb weitgehend unbeeinträchtigt: "Nur der Tonus ist etwas anders."
Gerade hat sie ein Apartment im Münchener Norden bezogen. "Ich brauche diese Freiheit."
Gerade hat sie ein Apartment im Münchener Norden bezogen, zwei Zimmer, groß genug, um vernünftig mit dem Rollstuhl um jede Ecke zu kommen. Groß genug vor allem, um ihr das Gefühl von Eigenständigkeit zu geben, das sich im Elternhaus im nahen Fürstenfeldbruck nicht recht einstellen mochte. "Ich brauche diese Freiheit", sagt sie.
Ihrer Wohnung ist ihr Leben abzulesen: Hier die Taschen mit der Ausrüstung mit dem Aufdruck Team Germany. Dort der Boxsack, der als Gegnerattrappe dient. An der Ecke der Saugroboter, der sich um den Boden kümmert, daneben der Greifarm, der ihr dabei hilft, Dinge vom Boden aufzuheben.
Jeden Tag trainiert sie zu Hause Athletik und Kraft, zweimal pro Woche auch im Werk 1.4, in das sie ohnehin jeden Tag zum Freifechten sowie für ihre Säbel- und Degenlektionen fährt. Mitunter zweimal am Tag. Hinzu kommt das Fernstudium in Psychologie, regelmäßige Physio- und Ergotherapie, Arzttermine "und Bürokram", wie sie sagt.
Nur selten schafft es Denise Hutter noch in ihre alte Ausbildungsstätte nach Gröbenzell zu Trainer Nagel, dem sie so viel zu verdanken hat. Damit fehlt sie auch dem U17-Talent Elias Kraft als Sparringspartnerin. Doch das Zeitbudget lässt nicht mehr zu. Gerade muss sie ohnehin pausieren, eine Radius-Fraktur im rechten Unterarm bremst sie aus: Mögliche Verletzungen sind die einzige Sorge der Trainer. Bleiben sie aus, dann fährt ihre Athletin 2028 zu den Paralympics in Los Angeles, darin sind sich alle einig. "Dann gehört sie zur Weltspitze", prophezeit Nationaltrainer Bondar.
Denise wer? Diese Frage hat sich dann erübrigt.