Der Schlusspfiff war verhallt, das Spiel zu Ende, da türmte sich auf dem Rasen des Maracanã von Rio de Janeiro nach und nach ein menschlicher Berg auf. Im Jubel stürzten die deutschen Fußballerinnen übereinander, bald sprangen auch die Ersatzspielerinnen schreiend herbei, und schließlich hatte auch Silvia Neid das Knäuel erreicht. Mit weit ausgebreiteten Armen und einem seligen Lächeln versuchte die Bundestrainerin ganz oben auf zu hüpfen, hielt sich für einen Moment und ließ dann los.
Silvia Neid lachte, sie weinte, sie war ganz bei sich und ihrer Mannschaft. Besser kann eine Trainerin nicht ihre Karriere beenden, als mit dem letzten noch fehlenden Titel in der Geschichte des deutschen Frauenfußballs. Der Schmerz kam später, kurz vor der Siegerehrung.
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Die Spielerinnen hatten sich etwas für ihre langjährige Trainerin überlegt, eine Verabschiedung im kleinen Kreis, was genau, blieb ihr Geheimnis. Und nachdem es dauerte, bis die Medaillen überreicht werden konnten, zog das Team diesen Moment vor und sich und die Trainerin in die Umkleide zurück. Als Silvia Neid wieder aus der Kabine auftauchte, musste sie sich mehrmals die Augen trocknen, bevor sie wieder zurück auf den Rasen und lächeln konnte.
Neid hat öffentliche Wertschätzung gewonnen
"Sie ist eine der Besten und eine derjenigen, die unseren Sport und Generationen von Fußballerinnen geprägt haben", sagte später Schwedens Nationaltrainerin Pia Sundhage, als sie über diesen Finalabend und den Abschied der Kontrahentin sprechen sollte. Dass Silvia Neid neben Titeln und Medaillen auch öffentliche Wertschätzung gewonnen hat, ist für die 52-Jährige aus dem Odenwald vielleicht sogar der noch größere Erfolg.
Als Silvia Neid anfing mit dem Fußballspielen, war das gesellschaftlich noch nicht gern gesehen für Mädchen, eine Frauen-Nationalmannschaft gab es noch nicht. Heute gilt der deutsche Frauenfußball als einer der erfolgreichsten der Welt, bei Spielen der Nationalmannschaft sind die Stadien gut gefüllt und die Zuschauer per Live-Übertragung millionenfach dabei. Dass Silvia Neid lange als streng und unerbittlich galt in der Zusammenarbeit, hat einen einfachen Grund: "Als ich anfing, konnten wir glücklich sein, wenn wir jemanden gefunden hatten, der uns zeigt, wie man trainiert", erzählte sie einmal, "ich hätte es toll gefunden, wenn ich noch mehr hätte lernen können."
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Neid will weiter dazulernen
Sein Potenzial ausschöpfen, dazu lernen, bereit sein, über Grenzen zu gehen, nie zufrieden sein mit Mittelmaß und zugleich Kritiker oder Verhinderer an sich abprallen lassen - Silvia Neid hat all das nie nur von ihren Spielerinnen, sondern zuvorderst auch von sich selbst gefordert. Lange Jahre führte das zu einer Wagenburg-Mentalität, mit den Jahren und den Erfolgen kamen dann die Gelassenheit - und mit den Misserfolgen auch das Verständnis für Kritik.
Das bittere Viertelfinal-Aus bei der Heim-WM 2011, das taktisch zu starre Gefüge bei der WM 2015 in Kanada - Neid hat lange erst im Stillen, zuletzt aber öfter auch offen über berechtigte Kritik geredet und sich ausgetauscht. Mit diesem Olympiasieg 2016, dem letzten fehlenden Titel für Deutschland, verabschiedet sich Silvia Neid auf dem Höhepunkt ihrer Trainerkarriere. Was sie ihrer designierten Nachfolgerin Steffi Jones mit auf den Weg gibt? "Das Wichtigste ist, dass man sich als Trainer selbst findet", antwortete Silvia Neid. "Das Allerwichtigste ist, dass man sich nicht verstellt und irgendjemand sein will, sondern dass man authentisch ist." Sie selbst leitet künftig den neu geschaffenen Posten als Leiterin der Scouting-Abteilung im Frauenfußball des DFB. Mit der Gewissheit, alles erreicht zu haben und doch noch lange nicht am Ende zu sein. Sie wird jetzt wieder dazu lernen können, "und darauf freue ich mich enorm".