Olympia:Ein Fackellauf, begleitet von Skepsis und Erleuchtung

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Auftakt: Den Fackellauf startete das heimische Frauenfußball-Nationalteam. (Foto: Kim Kyung-Hoon/dpa)

Seit Ende März ist das olympische Feuer unterwegs, seitdem wird viel gelächelt, gestrahlt, gewunken. Aber unübersehbar ist: Selbst die guten Momente der Fackelstaffel sind gezeichnet von der Pandemie.

Von Thomas Hahn, Shizuoka

"Tschuldigung", sagt der pensionierte Oberschullehrer Susumu Yamakawa. Er muss das Gespräch abbrechen, denn die ersten Fahrzeuge der olympischen Fackelstaffel kommen über die Sengen-dori-Straße in Shizuoka-Stadt. Er breitet das gelbe Laken aus, auf das er fünf Einbahnstraßenschilder und eine Protestnote gemalt hat. Die anderen aus der Anti-Olympia-Gruppe, lauter ältere Männer wie er, heben ihre Schilder. Eines erinnert daran, dass die Fackelstaffel eine Idee aus Nazi-Deutschland war, erstmals aufgeführt 1936 für die Spiele in Berlin.

Werbefahrzeuge und Busse ziehen vorbei. Begleitläufer verteilen Sponsorengeschenke. Einer aus Susumu Yamakawas Gruppe hat ein Megaphon dabei und ruft: "Gegen die Corona-Spiele!" Die anderen wiederholen die Parole, immer wieder, während sich auf der anderen Straßenseite ein Mann mit Schlips über die Kritiker aufregt. "Dafür!", ruft er zurück, "dafür!" Es entsteht ein kleines Wortgefecht. "Dagegen!" - "Dafür!" - "Dagegen!" - "Dafür!" Bis der Läufer mit der Fackel winkend vorbeigezogen ist, Lehrer Yamakawa sein Laken zusammenlegt und der Mann mit Schlips sich trollt.

Besondere Stimmung: Das olympische Feuer erreichte auch das Japanische Meer. (Foto: -/dpa)

Seit 25. März bewegt sich die Fackelstaffel in ständiger Vorsicht vor dem Coronavirus auf das Olympiastadion im Tokioter Sonderbezirk Shinjuku zu, in dem am 23. Juli die Olympischen Spiele beginnen sollen. Shizuoka ist die 41. Präfektur, durch die das Feuer kam. An diesem Samstag geht es in Yamanashi weiter, ehe die Fackel am 9. Juli Tokio erreicht, die 47. und letzte Präfektur auf dieser seltsamen Reise. Seiko Hashimoto, die Präsidentin des Organisationskomitees Tocog, war gerührt damals, als sie im Sportzentrum J-Village in der Präfektur Fukushima begann. "Es fühlt sich an, als würde es endlich losgehen", sagte sie. Und jetzt?

Sogar Kaiser Naruhito sei "sehr beunruhigt"

Es wurde viel gelächelt, gestrahlt, gewunken seit jenem Tag. Das Feuer loderte, der Live-Stream lief. Wer wollte, konnte jeden Tag aus sicherer Distanz dabei zusehen, wie bewegte Normalbürgerinnen und -bürger unter dem Motto "Hoffnung leuchtet den Weg" eine brennende Fackel durchs Land trugen. Aber Absagen gab es auch. Manche Etappen fanden ohne Publikum in abgesperrten Parks statt. Und die Diskussion um Sinn und Unsinn dieser Spiele hörte nie auf. Sie läuft immer noch. Sie hat sich nur etwas verändert. In ihr schwingt jetzt die Einsicht, dass man die pandemischen Spiele nicht mehr los wird, so wortreich die Medizin-Experten auch vor den Risiken dieses riesigen Sportfests mit Zehntausenden Aktiven, Funktionären und Medienschaffenden aus aller Welt warnen.

Viele haben gemischte Gefühle, gerade in der Präfektur Shizuoka, die nicht nur ein Standort der Fackelstaffel ist. Sondern auch ein Standort der Olympischen und Paralympischen Spiele. Diverse Rad-Wettbewerbe finden hier statt. In Izu liegt das olympische Velodrom.

Ehrfurchtsvolle Anteilnahme: Einwohner der Präfektur Shizuoka warten auf die Fackelstaffel. (Foto: Kazuhiro Nogi/AFP)

Der pensionierte Lehrer Susumu Yamakawa hatte wegen Olympia nie gemischte Gefühle. "Ich war schon immer dagegen", sagt er, es gehe nur noch ums Geld. "Und jetzt boxen sie das einfach durch." Aber viele andere in seiner Gruppe seien erst wegen Corona zu Olympia-Gegnern geworden. Und ein paar Meter weiter steht Kurita Azusa mit ihren zwei Töchtern sowie einer Freundin und deren zwei Töchtern. Sie hat dem Fackelläufer zugewinkt, die Töchter haben Sponsorenschals um den Hals. Sie freue sich auf die Spiele, sagt Kurita Azusa. Trotz Corona? "Solange wir hierbleiben, mache ich mir nicht so große Sorgen." Shizuoka-Stadt ist weit genug weg vom großen olympischen Theater. Wenn sie in Izu oder gar in Tokio wohnen würden, wäre das wohl anders, sagt sie.

Sobald mehr Menschen unterwegs sind, steigen die Infektionszahlen - in dieser Hinsicht war das Coronavirus bisher sehr zuverlässig, auch in Japan, wo die Infektionszahlen immer niedriger waren als in den schlimmsten Phasen in Europa oder Amerika. Alles spricht von ansteckenderen Mutanten. Tokio, seit Montag vom Notstand befreit, meldete am Freitag für die abgelaufene Woche einen Tagesdurchschnitt von 455,1 Infektionen, 17 Prozent mehr als in der Woche davor. Vollständig geimpft sind mittlerweile 9,2 Prozent der 126 Millionen Menschen im Inselstaat.

"Mir tut Japan leid. Die wollen wahrscheinlich absagen, aber können nicht."

Sorge gehört deshalb zur Grundstimmung dieser Tage in Japan. "Ich bin noch nicht 100-prozentig sicher", sagt der japanische Tennisprofi Kei Nishikori. Auch Kaiser Naruhito sei "sehr beunruhigt", berichtete Yasuhiko Nishimura, Großhofmeister des Kaiserlichen Hofamtes, während der Woche auf einer Pressekonferenz. Am Freitag wirkte sogar Seiko Hashimoto besorgt, nachdem im Olympiateam Ugandas das zweite Mitglied positiv auf Corona getestet wurde. Und gehörte nicht Heita Kawakatsu, Gouverneur der Olympia-Präfektur Shizuoka, zu den Skeptikern, als die Zeitung Mainichi im April eine Umfrage unter allen 47 Präfekturen machte? Aus neun Präfekturen kam damals die Meinung, die Spiele sollten abgesagt oder verlegt werden. Drei davon, Saitama, Yamanashi und eben Shizuoka, sind Olympia-Gastgeber.

In einer Hotellobby in Shizuoka-Stadt sitzen Kaoru Yoshikawa und Tatsuya Oba und wirken auf eine vorsichtige Art entschlossen. Sie vertreten den Tourismus in Shizuoka und tun jetzt, was sie tun müssen. Ihre private Meinung spielt keine Rolle, was der Gouverneur Kawakatsu vor zwei Monaten aus guten Gründen gesagt hat, auch nicht. Olympia kommt, das IOC und die Macht der Fernsehverträge haben gewonnen. Also wird nicht gejammert. "Wir wollen das Beste daraus machen", sagt Kaoru Yoshikawa. "Erst dachten wir: Machen wir das wirklich? Dann war klar, es wird gemacht, und wenn es gemacht wird, muss man es möglichst gut machen", sagt Tatsuya Oba. Also breiten sie Karten der Präfektur auf dem Tisch aus und überreichen bildreiches Informationsmaterial zu den Schönheiten ihrer Gegend zwischen Meer und Nationalberg Fuji.

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Nun also doch: Bis zu 10 000 Zuschauer sollen täglich die Olympischen Spiele besuchen dürfen, dabei sinken die Infektionszahlen in Tokio keineswegs rapide - die Einreise der teilnehmenden Länder wirft dazu neue Fragen auf.

Von Thomas Hahn

Shizuoka war schon immer ein beliebter Tourismus-Standort, allerdings vor allem für Einheimische. Die werden immer weniger, denn Japans Bevölkerung schrumpft. "Wir brauchen ausländische Gäste", sagt Yoshikawa, und die Spiele sind mit oder ohne Pandemie eine Plattform für die Shizuoka-Werbung. Die Olympia-Übertragungen von den Straßenrennen werden die üppige Landschaft um den Fuji in die Wohnzimmer der Welt bringen. Hobbyradler und Triathleten könnten dadurch Lust bekommen auf Trainingstage im malerischen japanischen Hinterland. Vorerst lässt Japan noch keine Touristen ins Land. Aber das kann ja nicht ewig so gehen, und dann hofft Shizuoka auf Kundschaft, welche die Bergrücken der Olympiastrecke reizen. Die Region braucht Geschäftserfolge nach der dürren pandemischen Zeit. "Die war hart und ist hart für uns", sagt Kaoru Yoshikawa. "Olympia ist eine kostbare Chance", sagt Tatsuya Oba.

Man muss wohl ein Vollprofi sein, um das so sehen zu können. Selbst die guten Momente der Fackelstaffel sind irgendwie gezeichnet von der Pandemie.

Tags darauf. Eine Ecke in Shimizu. Strahlender Sonnenschein. Erwartungsvolle Menschen am Straßenrand. Sie stehen dichter nebeneinander, als sie im Sinne des Corona-Schutzes stehen sollten. Aber alle tragen Masken, keiner spricht laut - wie offiziell gefordert. Man klatscht und winkt, und als die Fackel vorbeigezogen ist, fühlen sich manche wirklich erleuchtet.

Yoko Yoshida zum Beispiel, Rentnerin, wohnhaft ganz in der Nähe. Sie trägt einen Sonnenhut und ihre Maske so tief im Gesicht, dass man nur ihre lachenden Augen sieht. "Einmal im Leben die Olympia-Fackel zu sehen ... in meiner Stadt ..." Sie schwärmt vom Zeichen des ewigen Lichts, das die Welt verbindet. Sie schwärmt auch von Olympia. "Ich glaube, Olympia hat einen Sinn." Dann kommt schon das Aber. "Unter diesen Umständen ist der Sinn schwierig zu erkennen", sagt sie freundlich. "Mir tut Japan leid. Die wollen wahrscheinlich absagen, aber können nicht." Yoko Yoshida lehnt sich nicht auf dagegen. Keine Proteste. Sie sagt: "Ich bete, dass alles ein gutes Ende nimmt."

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