Ehe man bei Olympischen Spielen eine Silbermedaille umgehängt bekommt, muss man ein paar richtige Entscheidungen treffen, aber auch die richtigen Menschen. Im Fall der Bahnrad-Sprinterin Emma Hinze, 23, war der Trainer Alexander Harisanow der richtige Mensch. "Ohne ihn säße ich hier nur auf der Tribüne", das hatte Emma Hinze vor der WM im März 2020 in Berlin gesagt, bei der sie unten auf der Bahn mitfuhr - und dreifache Weltmeisterin wurde, im Teamsprint, im Sprint und im Keirin.
In Izu, Präfektur Shizuoka, weit draußen vor den Toren der Multimillionenstadt Tokio, wäre Emma Hinze nicht mal auf der Tribüne gesessen, als dort am Montag die Bahnrad-Wettbewerbe begannen: Zwar waren einige Zuschauer zugelassen, jedoch keine aus dem Ausland. Aber nun stand Emma Hinze auf dem Siegertreppchen neben ihrer Teamkollegin Lea Sophie Friedrich, 21, und um den Hals baumelte das Teamsprint-Silber, das womöglich erst der Anfang war für Emma Hinze bei diesen Olympischen Spielen.
Der Rücken: Im Jahr 2017 konnte Hinze sich kaum noch bewegen, schon beim Aufstehen tat alles weh, schnelle Bewegungen, Kniebeugen, undenkbar. Dann traf sie ihren Jugendtrainer Harisanow wieder und bat ihn um Hilfe. Die beiden fanden dann heraus: Ein Bandscheibenvorfall, den sie zuvor therapiert hatte, war gar keiner, die Diagnose war falsch. In Wahrheit habe sie unter einer "Aneinanderreihung von zu viel Training und einer falschen Haltung auf dem Rad" gelitten. Das ganze System haben sie also neu aufgebaut, ihr Trainer und sie, erst im Kraftraum, "an Radfahren war nicht zu denken", irgendwann auch wieder auf der Bahn. Emma Hinze wechselte dafür von Hildesheim nach Cottbus. Die Bahnrad-Karriere war gerettet. Am Dienstag fand sie in Izu ihren vorläufigen Höhepunkt.
In der Zeitfahr-Qualifikation, die am Anfang dieses Wettbewerbs steht, waren Hinze und Friedrich sogar die Schnellsten gewesen. Im folgenden Qualifikationslauf hatten sie keinerlei Mühe mit den Ukrainerinnen. In beiden Läufen stellten sie sogar jeweils einen deutschen Rekord auf: für die 500 Meter im Oval brauchten sie erst 32,102, dann nur noch 31,905 Sekunden. Die Durchschnittgeschwindigkeit: mehr als 56 Stundenkilometer. Dann das Finale gegen Bai Shanju und Zhong Tianshi aus China, in dieses gingen die Deutschen nicht mehr als Favoriteninnen, denn die Chinesinnen hatten ihrerseits im Qualifikationsduell mit Litauen die Konkurrenz geschockt: in 31,804 Sekunden, ein neuer Weltrekord.
Im Finale brachten die Chinesinnen ihre Rennmaschinen wieder etwas besser ins Rollen, was aber niemanden überraschen musste: Lea Sophie Friedrich, die Jüngere der beiden, ist erst seit Kurzem die Anfahrerin dieses deutschen Spitzenduos, und das in einer Disziplin, in der am Ende nicht Hundertstel, sondern Tausendstel entscheiden. Nach 250 Metern übernahm dann Hinze das Tempo. Und die Frage war: Würde sie den Rückstand wieder wettmachen können, als die wohl schnellste Radfahrerin der Welt? Hinze kämpfte sich heran. Am Ende fehlten auf der Ziellinie nur noch 85 Tausendstel zu Gold, ein Wimpernschlag. China 31,895 Sekunden, Deutschland 31,980.
"Der Lauf war fast perfekt", schwärmte der Bundestrainer Detlef Uibel, der schon viele Läufe aus nächster Nähe beobachtet hat. Die beiden Frauen brauchten ein bisschen, ehe sie zuließen, dass der Stolz die Enttäuschung verdrängt: "Wenn man Silber gewinnt, hat man den Lauf verloren. Aber jetzt freue mich einfach, dass wir diese Medaille haben", sagte Hinze. Und Friedrich ergänzte: "Jetzt sind wir megastolz."
Auf der Bahn in Cottbus verunglückte Kristina Vogel. "Angst wäre kein guter Begleiter", sagt Emma Hinze dazu
Seit der Teamsprint auch bei den Frauen im olympischen Programm ist, standen jedes Mal zwei Frauen des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR) auf dem Treppchen: Kristina Vogel und Miriam Welte gewannen 2012 in London Gold, 2016 in Rio Bronze. Die Pionierinnen sind nicht mehr dabei, die nächste Generation hat reibungslos übernommen. Wobei Kristina Vogel in Wahrheit doch noch mit dabei ist - nicht nur, weil sie am Montag in Izu als ZDF-Expertin auf der Tribüne mitfieberte.
Sondern auch, weil Vogels schwerer Unfall 2018 das Thema setzt: Ihre Querschnittslähmung erlitt Vogel bei einem Zusammenprall auf der Bahn in Cottbus, Hinzes Heimbahn. Trotzdem: "Angst wäre kein guter Begleiter", sagt Hinze immer, wenn sie nach den Gefahren ihres Sports gefragt wird. Unfälle können passieren. Ob man das so kühl von sich wegschieben kann, weiß nur sie selbst. Dass Kristina Vogel dem Bahnradsport inzwischen dauerhafte Aufmerksamkeit beschert, weil sie mit dem Schicksalsschlag offen umgeht, ist das eine. Aber sportlich musste die Leerstelle erst mal gefüllt werden. Vielleicht kann man es so sagen: Hinze und Friedrich gewannen am Montag Silber in der Vogel-Lücke.
Die Basis für Erfolge im Sprint ist die Kraft, mehr als 1500 Watt bringen Hinze und Friedrich in die Pedale. Es kommt aber noch mehr dazu. Zum Beispiel die drei Buchstaben auf dem Lenker: "FES". Das Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten in Berlin entwickelt und baut die deutschen Viererbobs, die deutschen Kanus, die deutschen Bahnrad-Maschinen, 20 000 Euro kosten Letztere pro Stück. Da kommt die Konkurrenz automatisch nicht mehr aus allen Ländern der Erde.
Aber man muss die Hightech-Maschinen auch antreiben. Und wenn Emma Hinze das so kraftvoll gelingt wie zum Olympia-Auftakt, könnte man ihr auch nach dem Sprint- und nach dem Keirin-Wettbewerb dabei zusehen, wie sie in Izu aufs Siegertreppchen springt. Bewegen kann sie sich ja jetzt wieder.