Skispringer Noriaki Kasai:Flieger in der eigenen Sphäre

Lesezeit: 3 min

Noriaki Kasai ist zurück im Schnee, die Sesselliftfahrt zur Schanze in Sapporo nimmt er am Wochenende mit der routinierten Gelassenheit des Altmeisters. (Foto: Kenta Harada/Getty Images)

Noriaki Kasai gewann vor zehn Jahren seine letzte Olympiamedialle, nun misst er sich wieder im Weltcup - im Alter von 51 Jahren. Als Ziel hat er Olympia 2026 ausgerufen.

Von Volker Kreisl

Lange hat man das nicht mehr gesehen. Das noch relativ junge Gesicht, unter einer großen Skispringerbrille. Die braune, noch glatte Haut und die wachsamen Augen, die den Schanzentisch fixieren. Dann bekommt Noriaki Kasai grünes Licht, in tiefer Hocke nimmt er Fahrt auf und stürzt sich nach vorne in die Luft. Sofort fahren an den Hüften die Hände aus, sie spreizen die Finger, alles muss nun größer werden im Aufwind. Wie in all den Jahren zuvor segelt Noriaki Kasai mit angespanntem Körper in Richtung Landezone, macht einen Telemark und bremst ab.

Ein gelungener, aber auch gewöhnlicher, alltäglicher Sprung war es, wenn man nicht wüsste, dass es sich um Kasais jüngsten Weltcup-Einsatz handelte. Alle diese Flugathleten erinnern sich an ihre besonders gelungenen Sprünge, meistens sind es Siege oder Podestplätze bei Weltmeisterschaften oder Olympischen Winterspielen. Mit Sicherheit hat das auch Noriaki Kasai immer so gemacht, und so wird es auch mit diesem jüngsten Erfolg in Sapporo sein, ein Satz, der ihn zwar nur gut 100 Meter weit trug, der aber in allen Wintersportländern beobachtet wurde.

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Kasai war zurückgekehrt in den Weltcup, nach vier Jahren. Zu Hause in Sapporo gelang ihm noch einmal ein Triumph, der alte Bekannte des Skispringens inspirierte: "Ich drücke Nori auch weit nach dem Ende meiner Karriere die Daumen und will die Hoffnung nicht aufgeben, dass er es doch noch mal bis ganz nach oben schafft", sagte Sven Hannawald, erster Vierfachsieger bei der Vierschanzentournee. Kasai, der locker der Vater seiner Konkurrenten im Weltcup 2024 sein könnte, schaffte es mit einem Sprung auf Platz 30, mit nun 51 Jahren. Danach gratulierten und jubelten alle, denn er hatte tatsächlich wieder einen Weltcuppunkt errungen.

Kasai ist ein Getriebener, bisher hat er an 571 Weltcup-Springen teilgenommen

Wobei "erringen" das falsche Verb ist. Es beschreibt den Ehrgeiz der Jugend, die nach vielen Weltcuppunkten trachtet. Kasais Botschaft ist eine andere, sie besagt: Wenn du deine eigenen Ziele setzt, hast du nicht nur Erfolg, sondern auch Freude. Die Aktion mit Platz 30 und dem einen Punkt könnte also ein ironischer Hinweis an die durchdrehende Sportwelt sein. Doch Kasai geht es eher nicht um Weltverbesserung, sondern darum, so lange wie möglich dabei zu sein. Skier schultern, hinauf fahren, auf den Balken setzen, grünes Licht. Noch kürzlich hatte er die Olympischen Spiele 2026 als Ziel ausgerufen, was vielleicht doch zu viel des Guten wäre.

Alter schützt vor Weite nicht: Noriaki Kasai fliegt immer noch, hier in Sapporo. (Foto: Kenta Harada/Getty Images)

Dennoch ist die Liste von Kasais Erfolgen gewaltig. Man kann in dieser Vita versinken, wenn man als Beobachter nicht nur in Olympiasiegen und WM-Goldmedaillen denkt, sondern das Naturell und die Situation des Athleten einbezieht. Kasai ist offensichtlich ein Getriebener, er hat an 571 Weltcups teilgenommen in den rund 35 Jahren seiner bisherigen Laufbahn; 32 Weltcupwinter lang ist er durch die Länder gereist. Und er ist natürlich in jeder Hinsicht der Älteste in diesem Sport, etwa der bislang älteste Weltcupsieger (mit 42) und der betagteste Springer auf einem Weltcuppodium (44 Jahre, 293 Tage). Seine bislang letzte olympische Medaille errang er im Alter von 41 Jahren und 254 Tagen.

Dass er es bis hierher als aktiver Weltcupspringer geschafft hat, muss an einer speziellen Grundeinstellung liegen. Die meisten Hochleistungssportler hören auf, wenn sie nicht mehr zu den Besseren gehören. Das ist in vielen Sportarten selbstverständlich, vor allem wenn ansonsten Mannschaften gebremst würden. Skispringen ist aber ein Einzelsport, manche Springer erzählen davon, dass ihnen die Einsamkeit in der Luft - insbesondere beim fast doppelt so langen Skifliegen - den entscheidenden Kick gibt.

Weitenjäger war er nie, Siegrekorde hat er nicht zu bieten - er hat eine ganz andere Motivation

Und Kasai hat sich offenbar wunderbar eingerichtet in seinem eigenen Milieu als gerade noch hinreichend fitter Skispringer. "Ich habe jeden Tag so sehr an meiner Ausdauer, im mentalen Bereich und an meinem Gewicht gearbeitet", sagt Kasai, "und endlich zahlt sich das wieder aus." Er ist noch dabei und hat sich dennoch vom Diktat des Leistungssports emanzipiert. Weitenjäger war er nie, Siegrekorde hat Noriaki Kasai nicht zu bieten, er hat ja eine ganz andere Motivation: die eigene Leistung, die er trotz nachlassender Kräfte durch die Natur des Skispringens noch aufbringen kann. Denn bei guter Technik wird der Körper im Vergleich zu anderen Disziplinen geringer belastet.

Und dennoch - wenn die Springer ab dem Sommer wieder für einen Platz im Weltcup trainieren, dann dreht sich das Rad im Skispringen weiter, und die Zeit wird für die meisten weiter ticken. Muskeln werden schwächer, Knochen brüchiger, Sehnen anfälliger und die Konzentration lässt nach. Wieder wird eine Generation im Skispringen wie in allen Sportarten sich gegen die gnadenlose Zeit stemmen, und diesen Kampf doch irgendwann verlieren.

Nur einer wird bleiben - der geübte Ü50-Springer Noriaki Kasai, der weiß, dass ihm die Zeit nichts anhaben kann.

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