Missbrauch im DDR-Sport:Übergriffe mit System

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"Er kann erst ruhig schlafen, wenn dieser Prozess zu Ende ist", sagt der Anwalt von Jan Hempel am Mittwoch auf SZ-Nachfrage. (Foto: Bernd Wüstneck/dpa)

Sexueller Missbrauch im DDR-Sport ist bis heute kaum aufgearbeitet, dabei wäre das auch für die Prävention dringend notwendig. Die Betroffenen sind von den Sportverbänden enttäuscht.

Von Saskia Aleythe, Schwerin

Zu erkennen, was ihr überhaupt passiert ist, hat Jenny Richter viele Jahre gekostet. Richter war ein sportliches Kind, in der zweiten Klasse begann sie, Wasserspringen zu trainieren. Sie war so talentiert, dass sie es an eine Kinder- und Jugendsportschule in der DDR schaffte. Dort wurde ihre Liebe zum Sport jedoch ausgenutzt, immer wieder. "Ich hatte einen Trainer, der seine Macht überall missbraucht hat, wo es ging", sagt Richter heute. Sie erlebte sexuelle Übergriffe, die sie lange nicht einordnen konnte. Der Schulbesuch war ja abgesegnet durch die Eltern, "dann siegt einfach die Naivität eines Kindes. Die Angst, über etwas zu sprechen, was anscheinend nicht da war, war groß."

Heute kann Jenny Richter darüber sprechen, viele Stunden Therapie und Überwindung hat sie das gekostet. Heute sitzt sie sogar vor einer ganzen Reihe von Zuhörern wie am Mittwoch bei einer Fachtagung in Schwerin. Sexueller Kindesmissbrauch war in der DDR ein Tabu, noch stärker ausgeprägt als in Westdeutschland. Eine Aufarbeitung des Themas hat bis heute kaum stattgefunden, dabei wäre das dringend notwendig: Für die Betroffenen, aber auch, um weitere Übergriffe zu verhindern. "Wir brauchen die Erkenntnisse über die Strukturen, sie sind die Basis für effektive Prävention", sagt Christine Bergmann, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Immer wieder hatten zuletzt verschiedene Formen von Gewalt den internationalen, aber auch den deutschen Sport erschüttert: Im Handball etwa, im Schwimmen oder im Turnen.

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Der bekannteste Fall im DDR-Sport ist der von Jan Hempel: Der ehemalige Weltklasse-Wasserspringer hatte im vergangenen August Missbrauchsvorwürfe gegen seinen langjährigen Trainer Werner Langer öffentlich gemacht. Auch Hempel ist nach Schwerin gekommen, um sich mit anderen Betroffenen auszutauschen. "Wir waren in einem System drin, in dem wir einfach unseren Sport gelebt haben und das haben hinnehmen müssen, was rundherum passiert ist", sagt er. Gegen den Deutschen Schwimm-Verband (DSV) will er klagen. Langer soll ihn 14 Jahre lang missbraucht haben, 2001 beging der Mann Suizid. Hempel berichtet auch, welche Reaktionen er auf die Veröffentlichung seines Falls bekommen hat: "Es gab eher strafende Worte und Vorwürfe, wie ich damit jetzt noch an die Öffentlichkeit gehen konnte." Auf eine Entschuldigung warte er bis heute. Der DSV hatte Wassersprung-Bundestrainer Lutz Buschkow im vergangenen Herbst fristlos entlassen. Er soll nach Hempels Darstellung Mitwisser gewesen sein, Buschkow bestreitet das.

Der DDR-Sport hatte Strukturen, die wie geschaffen waren für Missbrauch

Mit sexuellem Missbrauch im DDR-Sport hat sich die Wissenschaft bisher kaum beschäftigt, "da gibt es eine Forschungslücke", sagt Bettina Rulofs von der Sporthochschule Köln. Erste Fallstudien zeigen aber Strukturen auf, die wie geschaffen waren für Missbrauch. "Die frühe Sichtung und Förderung von Kindern spielte eine wichtige Rolle", sagt Rulofs. Schon im Grundschulalter wurden Talente in Kinder- und Jugendsportschulen untergebracht, oft auch in Internaten. Im Leben der Kinder gab es bald nichts anderes mehr als den Sport, die gewohnten Kontakte und Vertrauenspersonen brachen weg. Ausgewählt worden zu sein, sei für viele Kinder eine Situation der Wertschätzung und Aufmerksamkeit gewesen, die sie nicht gefährden wollten, heißt es in einer Fallstudie von Rulofs. Die Kinder hätten sich danach ihren Eltern und auch dem staatlichen System gegenüber verpflichtet gefühlt. Hatten die Eltern hohe Positionen im Beruf inne, wurden Kinder teilweise damit von den Tätern unter Druck gesetzt. "Er hat gesagt: 'Erzähle nichts zu Hause, weil dann passiert deinem Vater was'", sagt eine Betroffene, die sich an die Kommission gewandt hat.

Hempel (rechts) mit Heiko Meyer bei einem Sprung im Rahmen der Premiere des olympischen Synchron-Wettbewerbs der Turmspringer 2000 in Sydney. Mit 338,88 Punkten gewannen sie die Bronzemedaille. (Foto: dpa)

Auch die Art der Trainingsmethodik hat Übergriffe leicht gemacht: Durch ständiges Wiegen und regelmäßige medizinische Untersuchungen waren es Kinder gewohnt, von Erwachsenen berührt zu werden. "DDR-Biografien sind von mehrfachen Übergriffen gekennzeichnet" sagt Rulofs, dazu gehöre auch emotionale Gewalt bei abwertenden Aussagen über den Körper, aber auch Formen von körperlicher Gewalt durch Doping und massives Übertraining. In der Regel verbunden mit Drill, Zwang und Druck. Eine Person in der Fallstudie berichtet davon, zur Strafe für nicht erbrachte Leistungen von ihrem Trainer missbraucht worden zu sein, in der zweiten Klasse. "Kinder im DDR-Leistungssport waren einem System ausgesetzt, das sie ausgebeutet hat", sagt Rulofs.

Disziplin und Leistungssport hängen eng zusammen, wie eng, hat erst jüngst die Staatsanwaltschaft Chemnitz mit einem Urteil verdeutlicht. Sie stellte ein Verfahren gegen Turntrainerin Gabriele Frehse und zwei Ärzte wegen Körperverletzung ein, mit einer Begründung, die viele in Schwerin entsetzt: Vor den Teamkolleginnen zusammengeschrien zu werden, sei in Ordnung, zitierte der Spiegel aus dem Urteil: "Dieser seelische Druck ist im Profisport bedauerlich, aber normal."

Aufarbeitungskommissionen allein reichen nicht aus

Viele Betroffene trauen sich erst Jahrzehnte später, über die Taten zu sprechen, das wird bei der Beantragung von Hilfen dann zum Problem. Es müssten sehr detaillierte Angaben gemacht werden, was zu Retraumatisierungen führe. Die Hilfesysteme seien zu bürokratisch, "wir fühlen uns ziemlich alleingelassen, weil wir immer wieder erzählen und beweisen müssen, was uns passiert ist", sagt eine Betroffene.

Alleingelassen fühlen sie sich vor allem auch vom organisierten Sport. "Der Sport ist bis heute nicht bereit, die Systemfrage zu stellen. Er versucht es immer wieder, zu individualisieren", sagt Angela Marquardt, die Mitglied im Betroffenenrat der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) der Bundesregierung ist. Sie hat einst selbst sexualisierte Gewalt im familiären Kontext erfahren und sitzt in zwei Aufarbeitungskommissionen, unter anderem in der vom Deutschen Handballbund. Doch diese Kommissionen allein würden nicht ausreichen, sagt sie. "Es ist wunderbar, dass der Schwimmverband eine hat. Aber er wollte sie nicht. Er musste mehr oder weniger dazu gezwungen werden."

Aus ihrer eigenen Erfahrung heraus kommt Marquardt zu einem ernüchternden Fazit: Zuerst denke der Sport immer an sich und seinen Ruf, nicht an die Bedürfnisse der Betroffenen. "Solange sich das nicht ändert, wird sich die Kultur nicht ändern."

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