Vielseitigkeitsreiten:Das System hält nicht, was es verspricht

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Michael Jung muss seine Goldhoffnungen in der Vielseitigkeit begraben. (Foto: Dirk Caremans/Imago)

Wegen einer umstrittenen Sicherheitsklammer fällt Michael Jung beim Geländereiten weit zurück: Der Erfolg darf nicht davon abhängen, ob eine offenbar unberechenbare Technik funktioniert oder nicht.

Kommentar von Gabriele Pochhammer, Tokio

An Sprung 14 fiel die Goldmedaille zu Boden, mit einem dumpfen Dröhnen. Michael Jung war da schon mit seinem Pferd Chipmunk weitergaloppiert, das nächste Hindernis im Visier. So lange hatte es gedauert, bis sich der 30 Zentimeter dicke Holzbalken schließlich aus der Sicherheitsverankerung gelöst hatte, vorher war er scheinbar unentschlossen mehrfach hin und her geschwankt.

Chipmunk war mit einem Bein an den Balken gekommen, konnte den Sprung aber gut hinter sich bringen. Mit elf Strafpunkten fiel der in Führung liegende Jung damit beim Geländeritt weit zurück, aus der Traum vom dritten olympischen Vielseitigkeits-Einzelgold nacheinander, das schließlich seine Kollegin Julia Krajewski holte. Mehrere Reiter vor und nach Jung hatten das Hindernis, einen Sprung über eine Ecke, touchiert, bei sieben Reitern war die Eisenklammer aufgegangen, bei anderen nicht. Bei keinem der 28 Hindernisse im Cross von Sea Forest gab es mehr Zwischenfälle.

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Das für Geländeprüfungen entwickelte Sicherheitssystem MIM soll schwere Stürze verhindern, vor allem die gefürchteten Überschläge, bei denen der Reiter mit fatalen Folgen unters Pferd geraten kann. Es gibt die Klammern in zwei Stärken, die roten gehen erst nach sehr heftigem Anschlag auf, die gelben, wie an Hinderns 14, schon bei leichterer Berührung.

Sie sind zugelassen, sind aber in Buschreiterkreisen sehr umstritten, da offenbar nicht gewährleistet ist, dass sie immer so funktionieren, wie sie sollen. Die Sicherheitsklammern wurden nicht erfunden, um im Gelände, ähnlich wie beim Parcoursspringen, Abwürfe mit Fehlerpunkten zu sanktionieren. In Frankreich gibt es deshalb im nationalen Sport bis heute keine Strafpunkte, wenn sich die Klammer öffnet. Aber der Weltreiterverband wollte offenbar einen Unterschied machen, ob ein Pferd einen Sprung überwindet, ohne ihn zu berühren, oder ob es Körperkontakt mit dem Balken aufnimmt.

Das System könnte die Sicherheit gefährden

Nach jedem Pferd, das mit dem Hindernis in Berührung kommt, müssen die MIM-Klammern ausgewechselt werden, weil sie womöglich verbogen sind und beim nächsten Starter weniger Widerstand bieten. Videos beweisen, dass das bei Jung ordnungsgemäß geschehen ist. Die Ground Jury wies den Protest der deutschen Mannschaftsführung deswegen zurück, auf den Gang zum Sportgerichtshof Cas verzichtete man, wegen Aussichtslosigkeit.

Am Ende steht ein großes Fragezeichen. Geländereiten heißt, über feste Sprünge zu galoppieren, das ist der Markenkern des Sports. Die Pferde werden sogar trainiert, bei manchen Hindernissen mit den Beinen auf dem Sprung aufzusetzen, etwa bei Wällen, oder durchzuwischen, wie bei Buschhecken. Natürlich haben alle Maßnahmen, die die Gesundheit und Sicherheit von Pferd und Reiter schützen, oberste Priorität.

Aber der Erfolg darf nicht davon abhängen, ob eine ausgeklügelte, aber offenbar unberechenbare Technik funktioniert oder nicht. Parcoursdesigner können verführt werden, riskantere Sprünge zu bauen, weil sie auf das Sicherheitssystem vertrauen. Ein technisches System, das nicht hält, was es verspricht, das mal ausgelöst wird und mal nicht, dient nicht der Sicherheit, sondern gefährdet sie. Und ein Vielseitigkeitssport, der sich schleichend dem Springsport mit abwerfbaren Hindernisteilen nähert, ist auf dem Weg, seine Daseinsberechtigung zu verlieren.

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