Leichtathletik:"So wie früher als Kind und trotzdem sehr hochklassig"

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Schlussspurt im Schönbuchwinkel: Christina Hering (rechts) verliert über 600 Meter knapp gegen die Polin Adrianna Topolnicka. (Foto: R. Schmitt/Beautiful Sports/Imago)

Das "Meeting der krummen Strecken" in Pliezhausen wurde früher belächelt und bekämpft - heute dient es als Beispiel dafür, wie man sich auch in der fußballfernen Nische behaupten kann.

Von Johannes Knuth, Pliezhausen

Am Nachmittag, als sich die Ersten aus dem Schönbuchstadion in Pliezhausen schieben, bricht auf dem Kommandodeck doch ein wenig Hektik aus. Der Stadionsprecher trägt den Wunsch der kulinarischen Abteilung vor: Bitte beim Kuchenbuffet vorbeischauen, gerne auch etwas mit nach Hause nehmen - wäre doch schade um all das Zitronen-, Käse-, Schokoladengebäck! Einige der 1500 Gäste kommen dem Auftrag dann auch wacker nach, vom SV Unterjesingen bis zum SSC Berlin; dazwischen erspäht man in der Schlange sogar zwei Olympiasieger: Dieter Baumann, mittlerweile wieder Vorstand bei den Nachbarn der LAV Stadtwerke Tübingen, und Nils Schumann, der mit dem Sohn aus Erfurt angereist ist, ein junger Mittelstreckenläufer wie früher der Vater. Auch in der Leichtathletik kommt ja nichts so richtig weg.

Wenn man kurz darauf mit Thomas Jeggle spricht, dem einstigen Läufer und heutigen Chef des Meetings, meint man, dass ein Lächeln sein Gesicht umspielt, halb verschmitzt, halb ungläubig. Dass ihre Idee Mitte der Achtzigerjahre, den Leichtathleten ein Meeting zu Saisonbeginn aufzutischen, das nur "krumme Strecken" im Plan führt, also etwa 300 und 600 Meter statt 400 und 800 - dass diese Idee also keine ganz doofe war, das wussten sie. Aber dass aus "so a normalem Abendsportfescht", wie Jeggle es nennt, in einer Gemeinde mit damals 5000 Einwohnern zwischen dem Naturpark Schönbuch und der Schwäbischen Alb ein Meeting mit internationalem Anstrich erwachsen sollte, mit rund 500 Startern am vergangenen Sonntag wieder, vom Nachwuchs bis zu den Profis - das hatten sie dann doch nicht ganz im Plan.

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Heute können sie im kleinen Pliezhausen sogar mit stillem Stolz darauf verweisen, als Beispiel fürs große Ganze zu dienen: wie man sich mit Innovation und Hartnäckigkeit in der fußballfernen Nische behauptet. Und natürlich lachen sie heute darüber, wie 1985, beim ersten Abendsportfescht, die Funktionäre aus dem Landesverband zürnten ("Was wollt ihr denn mit dem Scheiß?!"), sogar Versuche lanciert wurden, das Meeting zu verbieten. Die konservative Leichtathletik tut sich eben schwer mit vielem, was die genormte Bahn verlässt. Jeggle und seine Mitstreiter wussten jedenfalls, was sie taten: Nebenstrecken wie die 300 und 600 Meter tauchen oft in den Trainingsplänen von Sprintern und Mittelstreckenläufern auf, um die Tempohärte für den Haupterwerb zu schulen. Wenn man daraus einen Wettkampf strickt, läuft es sich flotter als im Training - und die Trainer können nebenbei ableiten, wie es um die Fitness ihrer Athleten steht. Das war immer der Schlüssel: nicht den Kommerz oder Verband in den Fokus zerren, sondern die Sportler.

Der Rest kam fast von allein. Die Bundestrainer entdeckten das Meeting, trugen Wünsche vor, wurden erhört, kommen dafür bis heute mit ihren besten Athleten - Langhürden-Bundestrainer Volker Beck etwa. Und weil der Deutsche Leichtathletik-Verband - so sieht es jedenfalls der Meetingchef Jeggle - bis heute zu wenig tut, um abzustimmen, welcher Bundeskader sich bei welchem Meeting mit welchem Schwerpunkt vorbereitet, schmiedeten sie in Pliezhausen ihre Allianzen eben selbst. Alexander Seeger und Thomas Kremer rückten auch in diesem Jahr mit ihren Nachwuchs-Sprintstaffeln an, Ulrich Knapp kam nur deshalb nicht mit seiner Weitsprung-Olympiasiegerin Malaika Mihambo, weil die zuletzt krank im Bett lag.

Pliezhausen konkurriert heute mit den großen Meetings

Dafür schnappte sich Lisa Nippgen den Meeting-Rekord von Mihambo über 80 Meter (in 9,32 Sekunden), unterbot auch über 150 Meter (17,03) die Bestmarke von Melanie Paschke von 1997. Christina Hering, die mehrmalige deutsche Meisterin über 800 Meter, sagte nach Platz zwei über 600 Meter (1:27,03 Minuten): "Es ist einfach schön, dass man zum Saisoneinstig ein kleines Meeting mit einfachen Bedingungen hat, so wie früher als Kind und trotzdem sehr hochklassig."

Fruchtige Belohnung: Statt mit großen Summen locken sie die besten Läufer und Sprinter mit ihrem Konzept nach Pliezhausen - und, wie 1997 im Fall von Melanie Paschke, mit einem Siegerkorb. (Foto: Pressefoto Baumann/Imago)

So kann man es wohl bündeln: das Große im Kleinen verschmelzen, auf einem Sportplatz mit einer Tribüne für eine Handvoll Zuschauer, 120 Ehrenamtlichen und der Alb im Hintergrund. Und, klar: keine wilden Sachen. 40 000 Euro beträgt das gesamte Budget, sie bezahlen den besten Athleten die Anreise, verteilen 4000 Euro auf etwas mehr als ein Dutzend Entscheidungen - bescheiden selbst für die deutsche Szene. Trotzdem schrieben sie immer ihre schwarze Null, legten ein bisschen was für den Verein zur Seite, da entsprechen sie ganz dem schwäbischen Klischee - während andere Meetings mit den Sponsorengaben fürs laufende Jahr schon mal das Defizit vom vergangenen stopften, irgendwann im sechsstelligen Minus steckten. Auch das erzählt davon, weshalb viele Meetings in Deutschland eingingen, Pliezhausen heute mit den Großen aus Rehlingen, Cottbus, Regensburg und Dessau konkurriert. Die beste Werbung ist noch immer ihr Konzept. Und, an diesem Wochenende, eine Schachtel mit belgischen Pralinen für die Besten, gestiftet von einem Sponsor.

Erzählt das alles auch von der Kraft der Nische? Nun ja. Der Chef des derzeitigen Namenssponsors entdeckte das Meeting eher per Zufall, weil er sich 300 Meter vom Stadion entfernt niederließ. Auch sonst sei im Budget noch Luft für weitere Partner, sagt Jeggle. Und bei aller Bodenständigkeit habe er gelernt, es sich niemals im Vertrauten bequem zu machen; so waren sie ja auch zu ihrer Gründungsidee gekommen. In diesem Jahr etwa haben sie sich in die Continental-Tour des Weltverbands eingeschrieben (für einen Obolus von 2000 Euro), und wenn man will, kann man darin auch eine Würdigung ihres Konzeptes erkennen: Die Athleten konnten jetzt erstmals auf dem Nebengleis in Pliezhausen Punkte sammeln, die in die neue Weltrangliste eingespeist und für die jeweiligen Hauptstrecken angerechnet werden - was letztlich darüber richten kann, ob sich ein Athlet im August für die kommenden Weltmeisterschaften qualifiziert.

Gar nicht so schlecht für "so einen Scheiß".

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