Weltmeister Niklas Kaul:Alles zu seiner Zeit

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Noch mit Luft nach oben: Niklas Kaul verpasst in Götzis mit 8263 Punkten die Norm für die Olympischen Sommerspiele in Tokio. (Foto: Dietmar Stiplovsek/dpa)

19 Monate nach seinem letzten Wettkampf erlebt Zehnkampf-Weltmeister Niklas Kaul ein durchwachsenes Comeback - doch er vertraut seinem eigenen Tempo. Das Beste, davon sind in seinem Umfeld alle überzeugt, liegt noch vor ihm.

Von Johannes Knuth, Götzis

Niklas Kaul hatte jetzt wirklich nicht wenig zu tun, aber zunächst rief eine weitere, sehr dringende Bürgerpflicht. Ein junger Fan, gerade noch klein genug, um unter den Absperrbändern hindurch zu tauchen, war zur Bande neben der Laufbahn gehuscht, wo Kaul und Mutter Stefanie besprachen, wie der 23-Jährige sich über die nächste Höhe beim Hochsprung heben sollte. Der Fan hielt Kaul sein blaues T-Shirt und einen Filzstift entgegen, Kaul war zunächst etwas verdattert - dann signierte er das T-Shirt und lächelte dem Knirps hinterher, der stolz davonspurtete.

"Man merkt ja oft erst im Wettkampf", sagte Kaul später, "wie sehr man den Wettkampf vermisst hat."

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Götzis ist immer ein besonderer Termin für die Mehrkämpfer, das kleine Möslestadion, das Bergpanorama, in pandemiefreien Zeiten 5000 Zuschauer, die sich um die Anlage drängeln (diesmal waren 500 pro Tag zugelassen). Für Kaul war die diesjährige Auflage noch ein wenig spezieller: Es war sein erster Zehnkampf seit 19 Monaten, seit Doha, wo er sich mit 21 Jahren zum Weltmeister gekürt hatte; die Reporter wählten ihn später zum Sportler des Jahres. Im vergangenen Mai, kurz nachdem die Olympischen Spiele in diesen Sommer hinein verschoben waren, ließ er sich dann am Ellbogen operieren. So wurde ein Jahr, das für viele ein verlorenes war, zu einem der Chancen, so abgegriffen es klingt: Sein Körper heilte, und Kaul konnte ein noch festeres Fundament gießen für die nächsten Aufgaben, auch wenn in Götzis der zweite Tag, seine große Stärke, schwach ausfiel: 8263 Punkte, das reichte nicht mal für die Norm für Tokio (8350). "Ich wäre besser im Bett geblieben", sagte Kaul.

Andererseits: unruhig werden, das ist nicht sein Markenkern. Und so selbstverständlich war das ja nicht: dass er in Österreich schon wieder am Start stand.

Tut auch mal weh: Im Stabhochsprung schafft Kaul in Götzis 4,70 Meter - bei der WM in Doha waren es 30 Zentimeter mehr. (Foto: Axel Kohring/Beautiful Sports/Imago)

Im Februar 2020, die Welt wusste noch nichts von einer Pandemie, ahnte Kaul, dass er ein Problem hatte. Die Ellbogensehne im rechten Arm schmerzte, der Schmerz ging und kam, irgendwann war klar: Die Sehne war ausgeleiert, ein Klassiker bei wurfgewaltigen Athleten. Als die Spiele verschoben wurden, bewahrte das Kaul zwar davor, sich halbfit nach Tokio zu schleppen. Der Eingriff Ende Mai war dennoch mutig: Die Ärzte entnahmen ein Stück Sehne aus dem Unterarm, verpflanzten es an die Elle; der Pfad zurück in den Wettkampf währt meist zwölf Monate. "Und wir hatten 13 bis Olympia", sagte Kauls Vater Michael, der den Sohn mit seiner Frau in Mainz trainiert. Bis diesen Januar sei man "subbärvorsichtisch" gewesen, die einstige Unterarmsehe musste erst mal umgeschult werden, sie hatten ein wenig Sorge, ob das die Feinkoordination beeinträchtigen würde - beim Speerwurf etwa, Kauls große Stärke. Es klappte alles, aber wer im Januar noch subbärvorsichtisch war, bei dem fließt Ende Mai noch nicht alles zusammen, auch mit dem Speer, den Kaul statt 79 Metern in Doha diesmal auf 71,49 warf. Geschenkt. "Für ihn zählt es nicht hier", sagt Michael Kaul, "es zählt Anfang August."

Die Kauls sind immer ihr Tempo gegangen, alles diente dem Plan, nicht nur einen Sommer erfolgreich zu sein. Die Eltern, einst Leichtathleten auf der Mittelstrecke und im Langsprint, sind im echten Leben Lehrer und mussten nie kurzfristige Erfolge jagen, um ihre Trainerkarrieren voranzutreiben. Der Sohn startet bis heute für den USC Mainz, nach dem WM-Triumph, sagt der Vater, sei es für Niklas das Wichtigste gewesen, "dass alles normal weiterläuft. Dann ist er der fröhlichste Mensch". Man vergisst manchmal, dass Kaul erst 23 ist, wegen der Erfolge in der Jugend, der frühen Krönung, unter anderem. "Der macht den Eindruck, als ob er schon 30 Zehnkämpfe auf dem Buckel hat", findet Frank Müller, der leitende Bundestrainer der deutschen Mehrkämpfer. Da spiele die "gute Erziehung" auch eine große Rolle.

Kaul überlegt noch, ob er in drei Wochen in Ratingen einen Zehnkampf absolvieren soll

Sein Tempo zu finden, das heißt auch: Zeit für neue Wege, eine neue Disziplin wie die 400 Meter Hürden, "sonst geht man spätestens im Winter im Kopf total kaputt", sagt Niklas Kaul. Zeit fürs Physikstudium, das einen auch mal aus der Sportlerblase reißt, im Frühjahr brachte Kaul wichtige Prüfungen in theoretischer Quantenphysik hinter sich. Und auch: Zeit für sich. Er brauche nach großen Wettkämpfen "relativ lange", um diese zu verarbeiten, sagte Kaul in Götzis; 2019 stand für ihn alles im Zeichen der U23-EM, dann spielten sie in Doha für ihn die deutsche Nationalhymne. "Irgendwie auch komisch", sagte Kaul, maximal unaufgeregt, "da muss man auch mal länger drüber nachdenken und auch mal mit Trainern und Eltern drüber sprechen. Damit man danach loslassen kann."

Das Beste, davon sind sie in seinem Umfeld überzeugt, liegt noch immer vor ihm, bei Olympia 2024 und 2028, darauf war immer alles ausgerichtet. In Tokio will Kaul zumindest seine Bestleistung angreifen; für die Zulassung kann er zwar auch seine 8691 Punkte aus Doha einbringen, aber wenn bis zum Meeting in Ratingen in drei Wochen noch drei Deutsche 8350 Punkte schaffen, wäre er raus. Dass das passiert, ist eher unwahrscheinlich, Routiniers wie Michael Schrader und Rico Freimuth sind abgetreten, viele Junge angeschlagen, Kai Kazmirek, der WM-Dritte von 2017, schaffte in Götzis auch nur 8190 Punkte.

Kaul überlegt noch, ob er in Ratingen trotzdem einen vollen Zehnkampf absolviert, der Vorbereitung für Tokio würde das freilich nicht helfen. Die Aufgabe dort ist ohnehin knifflig genug: Neben Kevin Mayer, dem Weltrekordhalter aus Frankreich, ist da ja noch Damian Warner, der Kanadier, der in Götzis 8995 Punkte schaffte.

Andererseits: Vor Doha war die Lage ähnlich, dann kam nur Kaul durch. Manchmal, hat der Physikstudent gelernt, rechnet man sich besser nicht zu viel aus.

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