Es war August 2015, die Leichtathletik-WM in Peking brach an, als die Zeit reif war für ein Fazit von Helmut Digel. Es waren Worte voller Bitternis.
Digel hatte zwanzig Jahre im Council des Weltverbands IAAF gewirkt, der Regierung der Leichtathletik. Nach dem Kongress in Peking würde er seinen Platz räumen. Und jetzt fiel Digel in den Sessel in der Suite eines Fünf-Sterne-Hotels, dunkles Leder, schummriges Licht, und redete über ein "borniertes" System, in dem "Veränderungen unendlich langsam gehen". Zugleich hatte sich der Korruptionsgeruch im Verband verstärkt; das Beben der ersten Berichte über Doping und Bestechung in Russlands Leichtathletik hob an, immer mehr Fährten führten in die IAAF. War ihm der Gestank nie aufgefallen? "Wo es um Schuld geht, wird man mitschuldig", sagte Digel. Aber konkret etwas gewusst, sagte er später, habe er nie. Er habe versucht, Reformen durchzudrücken, doch man habe ihn als Störenfried empfunden. Während sich Lamine Diack, der Präsident aus dem Senegal, auf der Bühne des olympischen Kernsports sonnte.
Er sei, sagte Digel der FAZ , zwei Jahrzehnte "Teil einer Heuchelei" gewesen.
Digel, 72, ist einer der prominentesten deutschen Sportpolitiker, Querdenker, Intellektueller. Zwölf Jahre lang leitete der Soziologe das Tübinger Sportinstitut. Er gefiel sich als Ein-Mann-Opposition in der IAAF, kämpfte in Deutschland für ein Anti-Doping-Gesetz. Das war das Bild, das er gerne von sich malen ließ. Nun kommt ein anderer, schattigerer Entwurf zum Vorschein. Er skizziert einen Funktionär, der sich selbst in der intransparenten Welt bewegte, die er beklagte.
Diskretes Salär, über Jahre hinweg
Nach SZ-Informationen kassierte Digel jahrelang von der IAAF eine Art regelmäßiges Salär, diskret. Und offenbar ohne Rechtsgrundlage; das Verbandsreglement gibt keine her für Ehrenamtliche, auch die IAAF kann dies auf wiederholte Anfragen nicht erklären. Die Kanäle führen zu Lamine Diack und dessen Sohn Papa Massata, Geschäftskürzel: PMD. Drei Buchstaben, die als Brandmal in der Szene stehen - dafür, dass die Leichtathletik in den vergangenen Jahren fast kollabiert ist. Papa Diack vermittelte der IAAF 15 Jahre lang Sponsoren und soll kräftig Geld für sich abgeschöpft haben. Interpol jagt ihn seit knapp einem Jahr. Lamine Diack, der langjährige IAAF-Präsident, der in Peking 2015 abdankte und bald darauf verhaftet wurde, steht in Frankreich seit einem Jahr unter Hausarrest. Es geht um Korruption, Geldwäsche, Erpressung.
Und mittendrin taucht nun Digel auf, der Chefaufseher des IAAF-Marketings war und Empfänger diskreter Zahlungen. Zuwendungen, deren Fluss die IAAF bestätigt, während der deutsche Funktionär dazu trotz tagelanger Anfragen schweigt.
Spätestens 2010 lassen sich die Geldströme orten, spätestens da entschied die IAAF nach SZ-Informationen, Digel über die übliche Vergütung hinaus zu bezahlen. Wer in der IAAF eine Kommission leitet, dem stehen Tagesspesen zu, damals waren es rund 250 Dollar pro Tag. Da konnte man jährlich bis zu 50 000 Dollar aus dem Verband tragen. Aber das reichte offenbar nicht. Digel soll weitere zirka 3000 Dollar pro Monat bezogen haben, heißt es in IAAF-Kreisen. Gezahlt aus dem Verbandssitz in Monaco. Diack persönlich soll dieses Zubrot gewährt haben. Digel bestätigt oder dementiert nichts davon.
Wofür lässt der Präsident seinem Marketingexperten mindestens fünf Jahre lang Geld durch diskrete Kanäle zukommen? Zumal Digel just das Ressort betreute, in dem der Filius des Chefs besonders aktiv war? Es war eine Zeit, in der Vater und Sohn die Leichtathletik ausnahmen wie eine Weihnachtsgans. Sie sollen sogar Athleten mit positiven Dopingproben erpresst haben, so lautet einer von zahlreichen Vorwürfen der Strafermittler.
Der SZ liegt eine Erklärung von Jean Gracia vor, bis vor Kurzem Generalsekretär der IAAF. Darin bestätigt Gracia, dass Digel "wie manch andere Kommissions-Vorsitzende, eine zusätzliche Kompensation erhielt für weitere Zeit und Dienste, die er der IAAF zur Verfügung stellte". Nur: So eine Entlohnung ist von keinem Statut im Regelwerk gedeckt. Die wiederholte Frage nach der rechtlichen Basis für die Zahlungen wollte die IAAF nicht beantworten.
Bisher waren Sonderzahlungen an Ehrenamtliche nicht bekannt. Vielleicht hält sich die IAAF unter dem neuen Chef Sebastian Coe deshalb bedeckt zum konkreten Fall. Dafür räumt sie generell ein: "Unter der vorherigen Präsidentschaft wurden Präsident, Schatzmeister, Regionalchefs und einige Vorsitzende von IAAF-Komitees und Kommissionen vergütet in Bezug auf die Mehrarbeit über ihre normalen Aufgaben hinaus." In der Ära Diack also, sprich: Heute ist es nicht mehr so. Warum nicht? Gab es bis 2015 ein stilles Zahlsystem Diack in der IAAF? Die Zahlungen jedenfalls, teilt der Verband mit, erfolgten auffallend freihändig: "Es gab keine Verträge, und diese Zahlungen wurden per Banküberweisung oder Barzahlung gegen Empfangsbestätigung abgewickelt."
Das erinnert an jenes Honorar, das Fifa-Präsident Sepp Blatter 2011 freihändig an Vizepräsident Michel Platini ausgereicht hatte. Der Coup kostete sie ihre Ämter, die Schweizer Bundesanwaltschaft ermittelt.
Rückblende. Ein Treffen im Dezember 2004, ein Hotel am Stuttgarter Flughafen. Am Tisch: PMD, Digel, damals Vizepräsident der IAAF und für das Ressort Marketing und TV zuständig. Und Rolf Schneider, Vertreter der Messe Stuttgart, der um das damalige Weltfinale der Leichtathletik warb. Später am Tag schickte Diack einen Vertragsentwurf samt Wunschliste an Schneider. Er forderte 40 000 Dollar für "VIP-Geschenkpakete", darunter "wertvolle Uhren", Ebel, Rolex, Mont Blanc. Insgesamt bat Diack Junior um Gaben im Wert von 365 439 Euro. Um die Council-Mitglieder gewogen zu stimmen, die ja später den Ausrichter wählen würden. Ach ja, schrieb Diack Junior, sein Honorar belaufe sich auf 600 000 Dollar. Für die Beratung. Von einem Mann, der sich heute vor Interpol versteckt.
Die Stuttgarter zogen empört zurück. Digel protestierte bei Diack Junior, auch beim Senior und beim damaligen Generalsekretär der IAAF. Die Öffentlichkeit suchte er, der engagierte Selbstdarsteller, in diesem Fall aber nicht. Erst im Februar 2016 rückte der Vorgang ans Licht, jetzt bröckelte Digels Verteidigungslinie, nach der er nie etwas von krummen Deals mitgekriegt haben wollte. Er habe den Vorgang der Führung gemeldet und verhindert, schrieb er seinerzeit auf Anfrage, eine Ethik-Kommission gab es damals ja nicht. Und: "Da es bei der Vergabe keine Korruption gab, könnte man allenfalls von einem Versuch sprechen."
Haben sich all die krummen Geschäfte für Digel hinter einer Milchglasscheibe abgespielt?
Digel betreute in der IAAF das Marketing bis zum August 2015. Er arbeitete oft mit PMD zusammen, der den Stuttgarter Sündenfall mühelos überstanden hatte - und für seine Geschäfte nach Aktenlage auch auf Digels Segen angewiesen war. Etwa, wenn Diack Junior im Namen der IAAF reisen wollte. Längst weiß man, dass PMD seinen Beraterjob öfter so wie in Stuttgart interpretierte. Der Guardian berichtete von E-Mails, in denen er dem Emirat Katar wiederholt das Votum seines Vaters anbot: Mal ging es um die WM 2017, Kostenpunkt: fünf Millionen Dollar. Mal um die Olympischen Spiele 2016. Der einflussreiche Vater - Lamine war auch Mitglied im IOC - hatte als Spitzenfunktionär Afrikas enormen Einfluss auf das Wahlvolk des Kontinents. PMD soll dies ausgiebig dazu genutzt haben, um Stimmen für diverse Städteküren anzubieten. Mails stützen diesen Verdacht, dem eine Sonderstaatsanwaltschaft in Paris nachgeht. Die Ermittler interessiert nach SZ-Informationen neben der Spiele-Vergabe 2020 an Tokio auch die Vergabe an Rio de Janeiro 2016. Diack Junior streitet alles ab.
Hatte sich das für Digel alles hinter einer Milchglasscheibe abgespielt, die ihm die Sicht auf die Geschäfte versperrte? Er antwortet auch nicht auf die Frage, wie intensiv er mit PMD zusammenarbeitete. Und ob es sein kann, dass er nur diese eine Stuttgarter Affäre mitbekommen habe.
Der sonst so Wortmächtige schweigt.