Kommentar:Nah am Publikum, nah an der Gefahr

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Chris Froome auf dem Weg zum Mont Ventoux. (Foto: Getty Images)

Die Fans an der Strecke sind das große Kapital der Tour de France. Die Organisatoren wissen, dass das Rennen so zu einem leichten Ziel für Anschläge werden könnte. Aber sie können kaum etwas dagegen tun.

Kommentar von Johannes Aumüller

Nach außen hat vieles wieder ganz normal ausgesehen, bei dieser 14. Etappe der Tour de France. Das Peloton ist am Samstag auf seinem langen Weg durchs Rhone-Tal ausführlich beklatscht und angefeuert worden, die Werbekarawane ist mit ihrem dröhnenden Musikgeschepper den Parcours abgefahren, und im Ziel haben sich die Preisträger des Tages wie üblich dem Jubel der Anhänger gestellt. Die Tour ist die Tour ist die Tour, ein nationales Denkmal, das wollen sich Frankreich (und das Peloton) von niemandem kaputtmachen machen lassen, schon gar nicht von irgendwelchen Attentätern.

Der Sport wendet dieses alte "The games must go on"-Motto, das Avery Brundage bei den Sommerspielen 1972 als Chef des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) angesichts des Attentates palästinensischer Terroristen vorgegeben hat, manchmal in zweifelhafter Konsequenz an. Manchmal hat der Sport nicht einfach weiterzugehen, sondern schlicht innezuhalten. Auch der Tour hätte es nicht geschadet, am Freitag auszusetzen und statt des wie geplant durchgezogenen Einzelzeitfahrens sich etwa auf ein neutralisiertes Solidaritätsrennen für die Opfer des Anschlages von Nizza zu arrangieren.

Die Tour ist wie die Promenade von Nizza

Aber über die Frage des konkreten Gedenkens hinaus wirkt so ein Anschlag auf die Tour eben anders als auf die meisten anderen sportlichen Großveranstaltungen. In einem Fußballstadion gibt es Eintrittskarten und Einlasskontrollen und Videoüberwachung, und zur Not gibt es mehr Einlasskontrollen und noch mehr Videoüberwachung. Die Tour hingegen ist nicht nur eine große Sportveranstaltung, sondern ein Volksfest, sie ist keine abgeschlossene Stätte wie ein Stadion, sondern ein öffentlicher Raum, von allen Menschen besuchbar. Keine Einlasskontrollen, keine Videoüberwachung. Die Tour ist wie die Promenade von Nizza.

Diese Konstellation ist normalerweise der große Trumpf der Tour, sie erzeugt eine besondere Atmosphäre. Ganz nah kann das Publikum seinen Helden sein, jubeln, anfeuern, sogar mal einen guten Klaps mitgeben. Mal sind die Menschen in überschaubarer Zahl da, wenn das Peloton durch die verlasseneren Gegenden Frankreichs fährt, und mal in Massen, wenn sie sich an den steilen Anstiegen ballen.

Es braucht keine ausführliche Polizei-Ausbildung, um zu verstehen, dass die Tour ein besonders leichtes Ziel für Terroristen oder andere Irre ist. Die Verwundbarkeit fährt immer mit. Schon des Öfteren ist es ja auch zu Zwischenfällen gekommen. Hiebe von Fans für Fahrer gab es zu allen Zeiten, mit zuletzt steigender Tendenz.

Welche wirklich Alternative gibt es zu größtmöglicher Normalität?

Ex-Weltmeister Oscar Freire beschoss 2009 ein Teenager mit einem Luftgewehr. Und 2012 streute jemand so viele Nägel auf eine Tour-Abfahrt, dass es zu zahlreichen Reifenplatzern kam. Es ist fast ein Wunder, dass bisher noch nie etwas Schlimmeres passiert ist. Aber viele rund ums Peloton legen jetzt die beiden Szenen vom Donnerstag zusammen: Was ist, wenn sich in einer solch unkontrollierbaren Menschentraube, die am Nachmittag den Spitzenreiter Christopher Froome zu Fall gebracht hat, mal so jemand befindet wie derjenige, der am Abend den LKW gesteuert hat?

Es tut sich gewiss viel in Sicherheitsfragen. Die Organisatoren sperren nun manche Zufahrtsstraßen früher, die Kontrollen auch für akkreditierte Personen mit Zugang zum Zielbereich vermehren sich, die Zahl der Einsatzkräfte ist aufgestockt worden. Aber andererseits ist die Tour fast 3500 Kilometer lang, die Strecke von vielen Seiten erreichbar, mehr als 20 Millionen Menschen besuchen sie innerhalb von drei Wochen. Das lässt sich nicht vollends kontrollieren, der Tour ist diese bittere Erkenntnis bewusst. Und welche wirklich Alternative gibt es da zu größtmöglicher Normalität?

© SZ vom 17.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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