Fall Coleman:Ein schlechter Aprilscherz

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Keine Sperre für den Sprinter Christian Coleman, dem Kleingedruckten sei Dank. (Foto: Charlie Neibergall/AP)

Der Freispruch für Sprinter Coleman schreibt eine Tradition fort: Angeblich harte Regelwerke des Sports werden durchs Kleingedruckte aufgeweicht - und torpedieren den Anti-Doping-Kampf.

Kommentar von Johannes Knuth

Hin und wieder finden sich im großen, digitalen Twittergebrabbel kleine Schätze, auch zur Leichtathletik und dem globalen Anti-Doping-System. Da schrieb ein Nutzer jetzt über Christian Coleman, den schnellsten Menschen über 100 Meter in diesem Jahr, als der am Montagabend einer drohenden Dopingsperre entgangen war: "Wie wenn ich als Autofahrer dem Polizisten sage, dass er mich nicht für meinen Rausch bestrafen kann - weil ich meinen ersten Drink nicht zum Zeitpunkt der Kontrolle hatte, sondern Stunden davor." Prost!

So ganz daneben ist der Vergleich ja nicht. Coleman, so viel ist unstrittig, wurde zuletzt drei Mal innerhalb von zwölf Monaten nicht von den Dopingtestern angetroffen. Zweimal hatte er seinen Aufenthaltsort falsch angegeben, den er zu Beginn eines jeden Quartals digital hinterlegen muss. Das fiel den Testern aber erst auf, als sie Coleman testen wollten: am 6. Juni 2018 und am 26. April 2019. "Filing failure" heißt das auf Sportjuristisch. Das dritte Mal - am 16. Januar 2019 - hatte der Amerikaner seinen Ort offenbar richtig hinterlegt, er war dort aber nicht anzutreffen. Das wird als "Missed Test" gewertet. Machte drei verpasste Tests in zwölf Monaten und damit ein Jahr Sperre, mindestens. Das schienen die Anti-Doping-Offiziere der amerikanischen Agentur Usada auch anzupeilen, als sie zuletzt ein Verfahren einleiteten. Aber gemach, liebe Sheriffs, wandten der potenzielle Delinquent und sein Anwalt ein. Schon mal von Anhang I1 des Handbuchs für Dopingtester nachgeschaut, herausgegeben von der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada? Da steht: Wenn ein Athlet seinen Aufenthaltsort falsch angibt - ein "filing failure" also -, dann wird dieses Vergehen nicht dann gewertet, wenn der Athlet bei der Kontrolle nicht angetroffen wird. Es muss vielmehr an den ersten Tag des betroffenen Quartals rückdatiert werden, in diesem Fall also zum 1. April 2018 und 2019. Kein Scherz.

Und jetzt? Die Regeln diktieren auch, dass ein verpasster Test nach zwölf Monaten aus dem System getilgt wird. In Colemans Fall verfiel jener auf den 1. April 2018 rückdatierte Test am 31. März 2019. Colemans neuer Zwölf-Monats-Zeitraum für verpasste Tests brach nun am 16. Januar 2019 an, dem Zeitpunkt seines "Missed Test". Hinzu kam nur noch der Vorfall am 26. April 2019, der wohl zum 1. April 2019 rückdatiert wurde. Fall erledigt. Oder, frei übersetzt: Zwölf Monate können laut Wada-Kalender schon mal zehn, 15 oder 13 sein. Alle Klarheiten beseitigt?

Die gemäßigte Lesart dieser Affäre ist wohl, dass viele Sportparagrafen nach wie vor so verschwurbelt verfasst sind, dass sich sogar die Regelhüter darin verheddern. Was die Frage aufwirft: Wie viele Athleten wurden eigentlich schon belastet, weil sie sich nicht einen findigen Rechtsbeistand leisten konnten wie Coleman? Oder gar verurteilt? Aber auch die Regeln wirken seltsam elastisch. Wenn ein Athlet seinen Aufenthaltsort falsch angibt, dann wirkt sich das ja am triftigsten zum Zeitpunkt der verpassten Kontrolle aus, wenn er unbehelligt bleiben wollte - warum dann die Rückdatierung? "Sorry lieber Dopingtester, ich hab' geschummelt, aber eigentlich vor zwei Monaten"?

Colemans Fall schreibt jedenfalls eine alte Tradition fort: Die angeblich harten Regelwerke des organisierten Sports werden immer wieder durch das Kleingedruckte aufgeweicht, diesmal dank einer schlampigen Gesetzgebung, warum auch immer. Und der sog. Anti-Doping-Kampf ist wieder mal ein schlechter Aprilscherz.

© SZ vom 04.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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