Karriereende von Andrea Henkel:Nie ein Routinier

Lesezeit: 3 min

Bitteres Karriereende: Andrea Henkel (Foto: dpa)

Sie stammt noch aus einer Zeit, in der sich Biathletinnen mit der Frage auseinandersetzen mussten, ob Frauen beim Sport Waffen tragen sollten. Nach 19 Jahren beendet Andrea Henkel an diesem Wochenende leise ihre großartige Karriere.

Von Volker Kreisl, Oslo

Man stand in der Biathlon-Arena von Krasnaja Poljana und fragte sich, ob das jetzt wirklich sein musste. Ob so ein Auftritt nicht der Würde wegen einfach abgebrochen werden konnte. Nach einem Zusammenspiel aller denkbarer Pechformen des Biathlonsports - stockende Ski, tiefer Schnee, Sturz der Startläuferin, Schnee im Visierloch - waren die deutschen Frauen in der Staffel, ihrer letzten Chance auf eine Olympiamedaille, sozusagen vom Radar verschwunden.

Drei Minuten Rückstand hatten sie, das bedeutete, dass niemand mehr nach ihnen schaute, dass ihre Schieß-Auftritte nicht mehr übertragen wurden und auch ihre Zeiten auf der großen Anzeigetafel nicht mehr auftauchten. Es bedeutete, dass schon die zweite deutsche Läuferin Andrea Henkel außerhalb jeglicher Chancen auf Anschluss sinnfrei durch den Wald lief, die zweifache Olympiasiegerin von 2002 war bei ihrem Olympia-Abschied 2014 vom Off verschluckt. Doch ja, es musste sein. Ein Gitarrist würde womöglich seine Gitarre abschnallen und sich verdrücken, wenn ihm keiner mehr zuhört, ein Sportler nicht. Henkel und die anderen Staffelläuferinnen zogen die Groteske durch.

Es war der bitterste Moment eines insgesamt bitteren Abschiedsjahres der 36 Jahre alten Andrea Henkel. Bis auf wenige Ausnahmen bestand diese Saison aus Enttäuschungen. "Ich habe es mir anders vorgestellt", sagte Henkel vor zwei Tagen, vor den letzten Weltcuprennen ihrer Karriere am Holmenkollen in Oslo. Im Abschiedsjahr will eine Athletin Medaillen, sie will noch einmal das erhebende Gefühl aus den Anfängen und ihre Karriere mit einem Erfolg abbinden. Auch Andrea Henkel bekam im Abschiedsjahr noch einen Sieg, aber das war beim Weltcup in Antholz, ansonsten bekam sie nur einen Aufguss des echten Lebens.

Misere im deutschen Biathlon
:Neuners Erbe bröckelt

Magdalena Neuner hat dem deutschen Frauen-Biathlon ein wunderbares Image hinterlassen. Zwei Jahre nach ihrem Rücktritt stecken Athleten und Verantwortliche in der Krise. Noch lässt sich der Sport trotz Misserfolgen, Team-Zerwürfnissen und Dopingfall vermarkten. Doch das könnte sich bald ändern.

Von Saskia Aleythe

Dabei ist Andrea Henkel von ihren Fans 19 Jahre lang genau dafür verehrt worden, dass sie in einem Sport, in dem immer mehr Geld zu verdienen war, dessen Kulissen immer lauter wurden und dessen Sieger immer häufiger im Fernsehen kamen, wie jeder andere auftrat. Sie war am Anfang keine großartige Läuferin, aber eine brave Schützin, die in Salt Lake City 2002 im langen Einzelrennen und mit der Staffel Olympia-Gold holte. Danach ging es erst einmal bergab. Henkel traf nicht mehr wie früher, sie wurde krank und erst bei der WM 2005 in Hochfilzen gelang ihr wieder ein Titelgewinn. Olympiagold schaffte sie zwar nicht mehr, dafür jede Menge Medaillen und WM-Siege, drei davon 2008 in Östersund.

Aber wegen Siegen werden Sportler nur anerkannt, geliebt werden sie wegen etwas anderem, zum Beispiel ihrer Pannen. Henkel, die sich nie den daueroptimistischen Tonfall der Biathlon-Stars angewöhnte, sondern immer etwas spröde, trocken und selbstironisch redete, war nie ein Routinier. Sie hat 46 Weltcups gewonnen, aber sie hat in dieser Zeit zum Beispiel auch mal vergessen, das Magazin ordentlich aufzuladen. Und als es einmal leer sein sollte, hat sie im Trockentraining versehentlich durch eine Holzwand geschossen.

Andrea Henkel repräsentiert auch deshalb das echte Leben, weil sie nach ihrer Karriere die Traumwelt des Leistungssports hinter sich lassen wird. Sie hat sich in ihrem Abschiedsjahr zurückhaltend über ihre Pläne geäußert, aber so wie es aussieht, wird man sie weder als Trainerin noch als Fernsehexpertin oder Managerin erleben. Henkel arbeitet schon seit längerem nebenbei an ihrer Ausbildung zur Physiotherapeutin. Als solche will sie mal ihr Geld verdienen. Ansonsten wird sie im Sommer nach Lake Placid ziehen, wo ihr Freund wohnt, der amerikanische Biathlet Tim Burke. Mit Burke wird Henkel also zusammenleben und zum Beispiel Fliegenfischen.

Das ist was Neues, genauso wie Frauen-Biathlon einst auch mal was Neues war. Andrea Henkel stammt noch aus dieser Zeit. Im Jahr 1995 hatte sie ihr erstes Weltcup-Rennen bestritten, Platz 30 beim Sprint in Lillehammer, kein schlechtes Ergebnis für eine 17-Jährige.

Henkels Teamgefährtinnen hießen damals Uschi Disl, Petra Behle und Simone Greiner-Petter-Memm. Es war noch die Zeit, in der sich Biathletinnen mit der Frage auseinandersetzen mussten, ob Frauen beim Sport Waffen tragen sollten. Und in der sie bei Interviews erklären mussten, dass sie mit dieser Waffe zwischendurch auf fünf 50 Meter entfernte Scheiben schießen würden, und dass das der Reiz an der Sache ist: diese Mischung aus Anstrengen und Konzentrieren.

Wenn man noch aus den Anfängen stammt, bleibt man vermutlich immer normal. Und mit Szenen aus dem normalen Leben wird wohl auch das letzte Weltcupwochenende der Biathletin Andrea Henkel zu Ende gehen. Zwei Schießfehler hat sie sich am Donnerstag im Sprint von Oslo erlaubt. Das sind eineinhalb Minuten Rückstand für die Verfolgung, in der sie sich wegen der schweren Loipe kaum Sicherheit für den Massenstart am Sonntag holen wird. Aber Henkel wird auch diese letzten Rennen durchziehen und eher nichts gewinnen. Ihren festen Platz in der deutschen Biathlon-Geschichte wird sie dennoch haben.

© SZ vom 22.03.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: