Nicht jeder Skispringer hat Lust auf Nischni Tagil. Die Stadt liegt im mittleren Ural, Anfang Dezember ist es da nicht nur dunkel, sondern meist windig und eisig. Vor allem aber: Der empfindliche Bio-Rhythmus der Springer wird durch den langen Flug und die Zeitumstellung gestört. Muss das also sein? Dieser Abstecher in die Stahlstadt am Flusse Tagil? Manche Trainer oder Sportler ließen schon durchblicken, dass sie auf den Trip, vier Stunden voraus und in die Nacht, gerne verzichten könnten. Karl Geiger aber sagt: "Nischni hat was."
Das zeugt zunächst von Weltoffenheit und Neugier, denn Geiger, 26 Jahre alt, stammt aus einem Ort, der gewissermaßen das Gegenteil von Nischni Tagil darstellt, nämlich Oberstdorf. Das ist beschaulich und sonnig und wird statt von Metall- und Panzerindustrie von Bergen, Wiesen und Kühen geprägt. Und doch sagt Geiger, diese verschneite Landschaft weit im Osten habe "irgendwie Flair"; auch sehe man so "mal ein anderes Fleckchen dieser Erde", was wiederum davon zeugt, dass Geiger generell imstande ist, positiv zu denken. Weswegen er gerade mal wieder der beste deutsche Skispringer ist.
In Russland, beim dritten Weltcup dieses Winters, ist er nun als erster Springer des Deutschen Skiverbandes (DSV) auf das Podest gekommen. Zweiter wurde er, und am Tag danach gleich noch Sechster. Geiger liegt vor den Heimspringen ab Freitag in Klingenthal im Vogtland auf Rang drei der Gesamtwertung, mittendrin im Pulk der Topspringer. Skiflugweltmeister Daniel Andre Tande aus Norwegen und Stefan Kraft aus Österreich, der zweimalige Weltmeister von 2017, liegen vor ihm; Vierter ist der Vierschanzen- und Gesamtweltcup-Sieger Ryoyu Kobayashi aus Japan.
Mit Abstand die sichersten und verlässlichsten Sprünge im deutschen Team zeigt Geiger gerade. Er schafft es auch bei Rückenwind, noch eine annehmbare Weite zu erreichen, und er nutzt mächtigen Aufwind wie zuvor in Ruka auch mal zum Schanzenrekord, 147,5 Meter hat er da erreicht. Andererseits hat Geiger auch in den beiden Wintern zuvor ähnliche Ansätze gezeigt und war dann doch wieder zurückgefallen hinter seine besseren Kollegen. In der vorigen Saison hat er sich zunächst zwar weiter gesteigert, ist sogar WM-Zweiter von der Großschanze in Innsbruck geworden, weil aber Markus Eisenbichler, sein Team- und Hotelzimmerkollege, den Titel holte, blieb Geiger wieder nur ein Platz im Schatten. Nach den drei erfolgreichen Weltcups in dieser Saison stellt sich nun also die Frage, ob es Geiger auch mal in den Mittelpunkt des Erfolges schafft.
Nicht selten sind Sportler irgendwann auf die Rolle des Unvollendeten festgelegt und bestätigen die Rückfallprognosen immer wieder, als wären diese Teil des Programms. Doch Karl Geiger steckt, obwohl er seit sieben Jahren dabei ist, immer noch in einer Entwicklung, die nach oben weist. Und sein ausgeglichenes Gemüt bringt ihm auch die richtige Einstellung zu seinem Sport. So positiv, wie er an Nischni Tagil herantritt, so zuversichtlich geht er das Skispringen an, diesen unberechenbaren Sport, der manchmal selber wie eine extreme Klimazone ist.
Er kommentiert weder Rekordflüge noch Abstürze mit Superlativen
Geigers Gleichmut ist da wie eine schützende Wollmütze. Auf lauernde Fragen reagiert er höflich und sachlich, er kommentiert weder Rekordflüge noch Abstürze mit Superlativen. Geiger macht keine Siegersäge und brüllt nicht in Kameras. Als er plötzlich WM-Zweiter in Innsbruck war und man von ihm wissen wollte, ob dieses Supergefühl nun Selbstvertrauen für eine Superserie auslöse, meinte Geiger lächelnd: "Man kann sich nie drauf verlassen. Was sich vor zwei Wochen super angefühlt hat, kann sich morgen genau anders anfühlen." Und immer gelte: "Morgen ist ein neuer Tag, ich werd' mich konzentrieren, mein Zeug machen, dann schau'n wir."
In Nischni Tagil ist ihm diese Loslösung von allen Erwartungen wieder gelungen. Geiger hatte schon den ganzen Sommer über gute Sprünge gezeigt. Er hatte seine gute Form aus dem vergangenen Spätwinter gehalten, war dann im Sommer-Grand-Prix auf den Mattenschanzen mit zwei Siegen gestartet und belegte fast nur Top-Ten-Plätze. Überhaupt scheint das Springen Geiger seit seinem Silbergewinn noch mehr Freude zu bereiten. Stefan Horngacher, der Bundestrainer, sagte dem Skisprung-Portal Berkutschi: "Wir sind mit Karl auf dem richtigen Weg." Früher sei dessen Training immer "so lala gewesen und der Wettkampf überragend". Jetzt bringe er schon in Übungseinheiten starke Leistungen. "Wir hoffen, dass er im Wettkampf noch ein paar Stufen höher kommt", sagte Horngacher vor der Saison.
Eine Stufe hat er schon erklommen. Geiger hat in diesen windanfälligen Weltcups des Frühwinters seine Serie aus dem Sommer fortgesetzt und war viermal unter den besten Sieben. Es fehlen nicht mehr viele Stufen zum letzten Schritt, zum Einzelsieg in einem größeren Wettbewerb. Allerdings war Geiger ja schon oft auf dem Sprung in diese Position und fiel dann doch wieder ins Mittelmaß zurück. Deshalb sagte er selber mal, dass sein Aufstieg "ein längerer Weg" ist.
Karl Geiger ist eben kein Senkrechtstarter, sondern eher der unterschätzte Typ, der im Schatten steht und dann alle überrascht. Vielleicht ist ihm auch deshalb dieses Nischni Tagil so sympathisch, jene Stadt, die in Wahrheit nicht nur graue Industrie zu bieten hat, sondern viel mehr, eine bekannte Schauspielschule zum Beispiel, eine Akademie für angewandte Kunst und sogar eine Skisprungschanze.