Hertha BSC:Ende der Lotterie

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Von wegen trostloser Abstiegskampf: Die Berliner spielen unter dem neuen Trainer Bruno Labbadia auf einmal guten, cleveren Ballbesitzfußball.

Von Jens Schneider, Berlin

Es kommt nicht darauf an, dass ein Spieler viel läuft. Es geht auch um das Wann und das Wie: Als das Spiel von Hertha BSC Berlin gegen den FC Augsburg vor dem Kippen zu stehen schien, war Vladimir Darida schon so viel gelaufen, dass bei Abpfiff ein Rekordwert von 14,34 Kilometern stand. Jeder Meter war es wert. Der Berliner Mittelfeldspieler hatte die zunehmend stärker aufspielenden Augsburger oft ausgebremst. Nun eroberte Darida in der Schlussphase den Ball, beschleunigte und spielte präzise nach vorn, wo Krzysztof Piatek das Tor zum 2:0-Endstand gelang. Gut für die Bilanz: Hertha BSC holte zehn Punkte aus den vier Geisterspielen.

Es war das richtige Tempo im richtigen Moment, und wer das derzeit interessanteste Phänomen der Corona-Bundesliga verstehen will, findet in dieser Szene eine Erklärung: Hertha BSC spielt unter dem neuen Trainer Bruno Labbadia auf einmal guten, klugen Fußball - und setzt seine Mittel richtig ein. Statt von Abstiegssorgen könnten die Berliner bereits von der Europacup-Teilnahme reden, aber sind für den Moment schlau genug, das anderen zu überlassen. Das ist in Berlin eine besondere Leistung, wo sie sich auch bei der Hertha darauf verstehen, die Diskrepanz zwischen Anspruch und Leistung auszudehnen. Zuletzt wollte man, ausgestattet durch den Investor Lars Windhorst, als "Big City Club" schnell nach oben, aber die Mannschaft hatte unter den kurzzeitigen Big-City-Trainern Jürgen Klinsmann und Alexander Nouri kaum Struktur und Stil.

Berlin stellte sich auf einen trostlosen Kampf gegen den Abstieg ein. Wie das Ergebnis einer Lotterie erschienen bis zu Labbadias Ankunft die immer wechselnden Aufstellungen. Um so beachtlicher ist der Auftritt unter Labbadia: Gegen Augsburg spielten die Berliner Ballbesitzfußball mit großer Souveränität, zumindest eine Halbzeit lang. Die Mannschaft habe "nach einem klaren Plan gelechzt", sagte Labbadia. Er erinnert an die vielen Wechsel vor seiner Zeit. Dem Team habe eine Achse gefehlt. Unter ihm gibt es diese Struktur. Aufbauend aus der souveränen Innenverteidigung zogen die Berliner im Olympiastadion ihr Spiel mit Selbstverständlichkeit auf. Nichts wirkte erzwungen, nichts zufällig.

Der Ball kursierte zuweilen mehr als ein Dutzendmal in den Berliner Reihen, bevor die Augsburger auch nur einen Fuß dazwischen bekamen. Dabei agierten die Herthaner zunächst langsamer, um dann bei günstiger Gelegenheit überraschend schnell zuzuschlagen - so wie beim ersten Tor, das Javairo Dilrosun erzielte, nachdem er vorher mit einem lässigen Lupfer einen Gegenspieler umkurvt hatte. "Andere ballern da drauf und schießen die Leute an, die dann im Tor liegen", erklärte Labbadia.

Hertha hatte etliche Chancen, bis sich nach der Halbzeit das Spiel komplett drehte. Den Berlinern fehlten sichtbar die Kraft und Konzentration für ein genaues Spiel. "Der Tank war komplett leer", erklärte Labbadia. Nun stießen die Augsburger so schnell vor, dass die Berliner Abwehrspieler bestenfalls dazwischen springen konnten. Augsburg erspielte sich Chancen, Marco Richter traf die Latte. Treffend beschrieb Trainer Heiko Herrlich sein Gefühl aus dieser zweiten Halbzeit, er brachte damit die ganze wunderbare Unlogik des Fußballs auf den Punkt. Er habe gewusst, so Herrlich: "Wenn wir eins machen, gewinnen wir das Spiel noch."

Hätte, hätte, Abwehrkette: Sie machten keines, Herthas ganze Mannschaft stemmte sich dagegen und hatte auch Fortune. "Unfassbar glücklich", sei er, so drückte es Labbadia aus. Es hätte anders ausgehen können, und auch damit könnte es zu tun haben, dass der neue Berliner Trainer sich zwar, selbst noch etwas überrascht, darüber freute, dass seine Mannschaft schon gut Fußball spielt. Aber auf alle Fragen nach höheren Zielen, nach dem Europacup, antwortete er mit dem Hinweis, dass zehn andere Vereine das auch wollen und er erst einmal den Abstieg verhindern wolle. "Mehr Leistung zeigen, weniger reden", darum gehe es. Klingt nicht so sexy wie "Big City Club", aber sieht besser aus.

© SZ vom 02.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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