Handball-Bundesliga:Dr. Jekyll und Mr. Hyde in der Achterbahn

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Noch einmal gutgegangen: Erlangens Abwehr blockt den Wurf von Dainis Kristopans. (Foto: Daniel Marr/Sportfoto Zink/Imago)

Der HC Erlangen ist mit einem guten Kader, einem neuen Trainer und viel Zuversicht in die Saison gestartet. Nun steckt die Mannschaft im Abstiegssumpf und hat den Trainer gewechselt. Und gerade rechtzeitig zeigt sich im Saisonendspurt ein Aufwärtstrend.

Von Ralf Tögel

Als sich Dainis Kristopans den Ball schnappte, musste man mit dem Schlimmsten rechnen. Bis dahin hatten die Erlanger Handballer die knapp 5000 Zuschauer in der Nürnberger Arena durch eine Handball-Achterbahn gejagt, deren Ende auch nach der abgelaufenen Spielzeit nicht feststand. Eine Pointe folgte in der nervenaufreibenden Schlussphase der nächsten, erst klaute Melsungens Spielmacher Erik Balenciaga mit einem Bauerntrick beim Anspiel den Erlangern den Ball und traf 15 Sekunden vor Schluss traf zum 31:30. Dann fand der zuvor übertölpelte Lutz Heiny mit einem feinen Anspiel Kreisläufer Tim Zechel: 31:31. Den Gästen blieben zehn Sekunden für den Siegtreffer, doch der Angriff wurde unterbunden, Schlusssirene - direkter Freiwurf. Und Kristopans holte sich den Ball.

Solch ein Wurf ist selten von Erfolg gekrönt, er erfolgt aus dem Stand, die Abwehr kann sich am Kreis als Mauer platzieren. Aber wer den lettischen Linkshänder sieht, begreift schnell, dass es mit ihm als Werfer dennoch gefährlich wird. Kristopans ist 2,15 Meter groß, hat ein Kreuz im Doppelwandschrankformat, der Ball schrumpft in seinen Pranken zur Kindergröße. Aber sein Geschoss wurde mit vereinten Kräften geblockt, womit das herausstechende Merkmal der Erlanger Leistung getroffen ist: mit vereinten Kräften. Man konnte nach den gehemmten und ängstlichen Auftritten der vergangenen Wochen den Eindruck gewinnen, dass da eine neue Mannschaft auf dem Feld stand. Lange hatten die Verantwortlichen mit großer Gelassenheit auf den stets beruhigenden Abstand nach hinten und eine Kehrtwende vertraut, die Heimniederlage gegen Leipzig vor eineinhalb Wochen, die fünfte in Serie, war dann doch zu viel: Trainer Hartmut Mayerhoffer wurde freigestellt. Er war erst im Sommer gekommen, sollte eigentlich die Basis für den Angriff auf die oberen Plätze schaffen. Dafür wurde der Kader verstärkt, namhafte Spieler wie der spanische Weltmeister Gedeon Guardiola kamen.

Zusammengestellt wurde das Team allerdings von Sportdirektor Raul Alonso, der vor Mayerhoffer in Doppelfunktion auch als Trainer fungiert hatte. Der neue Coach, der schon in seiner Zeit bei Frisch Auf! Göppingen eine Mannschaft aus dem Mittelmaß ins internationale Geschäft geführt hatte, war zunächst damit beschäftigt, Struktur ins Gefüge zu bringen und den Kader zu verkleinern. Was nicht zuletzt mit den vorzeitigen Abschieden von Guardiola sowie Spielmachertalent Veit Mävers, der aus Hannover geholt wurde, endete. Trotz zwischenzeitlich starker Auftritte, wie etwa beim famosen Sieg gegen die Rhein-Neckar Löwen, gelang es Mayerhoffer nicht, Konstanz in die Leistungen des Kollektivs zu bekommen. Starken Leistungen folgten unerklärliche Aussetzer, Erlangen schlitterte zusehends Richtung Abstiegszone. Also wurde Co-Trainer Johannes Sellin auf den Chefstuhl gesetzt, sein erstes Spiel beim Bergischen HC ging verloren, der erhoffte Impuls blieb aus.

Erlangen führt mit acht Toren, was soll noch passieren? Dasselbe wie immer

Nun also das 31:31 gegen die MT Melsungen und ein Spiel, das die gesamte Saison widerspiegelte. Die Gastgeber dominierten den hochkarätig besetzten Gegner, die Abwehr packte aggressiv zu, Torhüter Bertram Obling hielt erstklassig, im Angriff zauberten die Erlanger Profis phasenweise mit Kempa-Toren und lagen ein Viertelstündchen vor Schluss mit acht Toren vorne. Um sich danach mit einem umfangreichen Repertoire an Fehlleistungen unnötig in die Bredouille zu bringen: Die Abwehr agierte träge, Großchancen wurden versiebt, Fehlpässe, Ballverluste und überhastete Abschlüsse in Serie produziert. Einmal mehr bewiesen die Erlanger, dass sie auch so stark besetzte Gegner wie den Tabellenvierten schlagen können. Einmal mehr aber auch, wie anfällig ihr Nervenkostüm nach ein paar Fehlern wird, dann kommt die gesamte Mannschaft völlig aus dem Tritt und spielt wie ein Absteiger. Melsungens kroatischer Nationalspieler Ivan Martinovic, der kürzlich maßgeblich an der Niederlage der deutschen Auswahl in der Olympia-Qualifikation beteiligt war, freute sich folglich nach der Partie grinsend über "einen Punktgewinn".

Starkes Comeback: Hier wird Antonio Metzner (re.) vom ungarischen Nationalspieler und Melsunger Abwehrchef Adrian Sipos in Empfang genommen. (Foto: Daniel Marr/Sportfoto Zink/Imago)

Auf der Suche nach einer Erklärung für diese wiederholten Dr.-Jekyll-und-Mr.-Hyde-Auftritte der Erlanger blickt man in ratlose Gesichter. "Auf dem Papier müssten wir viele Gegner schlagen", sagt Antonio Metzner, "aber da muss der Kopf mitmachen." Der Trainer, so merkte der Rückraumspieler noch an, "kann da nichts dafür". Womit er den geschassten Mayerhoffer meinte, den er als "überragenden und fairen Coach" bezeichnete. Ein feines Lob zum Abschied, denn Metzner hatte unter Mayerhoffer zuletzt kaum Einsatzzeiten bekommen. Sellin hingegen bot den Linkshänder gegen Melsungen in der Anfangsformation auf, wie auch Simon Jeppsson und Nico Büdel. Die Maßnahme ging auf, Metzner traf sechsmal, Jeppsson fünfmal, Büdel setzte viele Akzente.

Dass es wieder nicht reichte, konnte auch Sellin nicht erklären. Die erste Dreiviertelstunde bereitete ihm große Freude, resümierte er, die Schlussphase? "Dafür gibt es keine einfache Erklärung, wir können uns nur Sicherheit im Training holen." Er arbeite daran, "dass die Spieler Spaß am Spiel haben", dass er ihnen die Angst nimmt, damit sie "wieder befreit spielen". Drei Punkte hat Erlangen bei drei ausstehenden Spielen noch Vorsprung auf den Vorletzten Bergischer HC, zwei Klubs steigen ab. Gegen den kommenden Gegner sollte ein befreites Aufspielen möglich sein, in zwei Wochen ist der SC Magdeburg zu Gast, die "derzeit weltbeste Mannschaft", wie Sellin sagt. Da hat Erlangen wenig zu verlieren, aber viel zu gewinnen. Und genau das ist der Plan: "Wir gehen in das Spiel, um zwei Punkte zu holen."

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