Hannover 96:Gegendemonstration

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Hannoveraner Kontraste: Jubeltraube um den Torschützen Jonathas - vor der Kulisse eines Protestplakats gegen Klubpräsident Martin Kind. (Foto: Nordphoto/imago)

Die Debatte um Präsident Martin Kind ist in Hannover zunächst vertagt. Denn die Mannschaft zeigt beim Heimsieg gegen Schalke, dass sie sehr schnell Bundesliga-Niveau erreicht hat - und die meisten Fans sind glücklich.

Von Jörg Marwedel, Hannover

Martin Kind hatte es eilig, in die Kabine seines Teams zu kommen. Der Präsident, der künftig auch offiziell mit seinen Mitgesellschaftern alles bestimmen darf in der Hannover 96 GmbH und Co KG auf Aktien, wollte endlich jenen Mann kennenlernen, der mit seinem Tor in der 67. Minute dem Wiederaufsteiger gerade zum 1:0-Sieg über den FC Schalke 04 verholfen hatte: den Brasilianer Jesus Jonathas, 28, der vor wenigen Tagen für circa neun Millionen Euro Ablöse als teuerster Zugang der Klubgeschichte verpflichtet worden war. Kind, der "lupenreine Demokrat", wie die Ultra-Fraktion unter den Zuschauern zynisch auf einem Plakat kundtat, hatte bis dahin noch keine Bekanntschaft mit Jonathas gemacht. Denn die Auswahl des Personals trifft eben nicht der Chef, sondern die Expertengruppe mit Sportdirektor Horst Heldt, dessen Assistenten Gerhard Zuber, Aufsichtsratsmitglied Martin Andermatt und Trainer André Breitenreiter.

Auch diesmal war Kind der am meisten beschimpfte Mensch im Stadion, doch das heimische Team sorgte dafür, dass die Botschaft der Opposition ("Keine Stimmung ohne Mitbestimmung") weitgehend wirkungslos verhallte. "Die Mehrheit", zog Heldt nach dem Schlusspfiff eine Stimmungsbilanz, "hat uns unterstützt." Es wurde trotz der zahlreich versammelten Schalke-Anhänger "kein Auswärtsspiel", wie es Stürmer Martin Harnik befürchtet hatte. Sein Angriffskollege Niclas Füllkrug fand es sogar einen "Wahnsinn", wie die meisten Fans jene Minderheit übertönt hätten, die auch diese Partie mit Schweigen begleiten wollte. Er hätte sich am liebsten bei jedem Einzelnen persönlich bedankt, sagte der gebürtige Hannoveraner Füllkrug.

Dass die beiden ehemaligen Schalker Breitenreiter und Heldt angeblich keine Genugtuung über den Sieg verspürten, mag man glauben oder nicht. "Wir sind ja nicht auf Schalke, sondern in Hannover. Da geht man mit gewissen Dingen realistisch um", sagte Breitenreiter nach der optimalen Startbilanz von sechs Punkten aus zwei Spielen nicht ohne Hintergedanken.

Breitenreiter hatte unter der Woche "sämtliche Szenarien" trainiert, mit denen sein junger Nach-Nachfolger Domenico Tedesco es taktisch hätte versuchen können. Und so gewann er das System-Duell der Trainer. Anfangs mit einer Dreierkette, mit der sich 96 in der ersten Halbzeit 9:2 Torschüsse erarbeitete. Als Tedesco seinen Plan änderte, um den Gegner herauszulocken und mit langen Bällen zu überspielen, wechselte auch Breitenreiter seine Anordnung, stellte auf ein 4-2-3-1 um. "Irgendwann konnte ich nicht mehr folgen", bemerkte Horst Heldt scherzend.

Entscheidend war, dass Schalkes lange Bälle von der kopfballstarken Abwehrmauer der 96er abprallten wie Rebounds beim Basketball. Salif Sané (1,96 Meter), Felipe (1,93 Meter) und Waldemar Anton (1,89) überragten alle, waren aber auch am Boden hellwach. Oder, wie es Füllkrug sagte: "Wir hatten ein paar Feuerwehrleute, die in brenzligen Situationen gelöscht haben." Dazu kam, dass Pirmin Schwegler und Marvin Bakalorz im Mittelfeld das Spiel antrieben. Bakalorz bereitete dann auch den Treffer des in der 61. Minute eingewechselten Jonathas vor. Er nahm einen Fehlpass des schläfrigen Thilo Kehrer auf und legte den Ball präzise in den Lauf des Brasilianers. Erster Torschuss für Hannover - erstes Tor. "80 Prozent des Tores", stellte Breitenreiter fest, gingen aber an Bakalorz mit seinem "aggressiven Pressing".

Dass Bakalorz sich später nicht, wie zunächst befürchtet, einen Unterarmbruch zuzog, sondern nur eine schwere Ellbogenprellung, passt zum sportlichen Aufwärtstrend der Hannoveraner, die sehr schnell wieder Bundesliga-Niveau erreicht haben. Und auch der 1,92 Meter große Jonathas, der in sieben Jahren in Europa schon für acht Klubs Tore schoss, scheint zügig beim neuesten Arbeitgeber anzukommen. Zum einen, weil er sehr offen sei, obwohl er nur wenig auf Englisch spreche, wie seine Mitspieler berichten. Zum anderen, weil Kollege Harnik in der ersten Trainingswoche beobachtet hat, "wie kalt er vor dem Tor ist".

Gleichwohl will Heldt nach der Absage an den Mainzer Jairo die Mannschaft bis zum 31. August noch auf dem Flügel verstärken. In der Diskussion ist der Düsseldorfer Ihlas Bebou, 23, für den die Fortuna angeblich fünf Millionen Euro verlangt. Auch der tschechische Nationalspieler Jaromir Zmrhal, 24, von Slavia Prag soll ein Kandidat sein. Der Linksfuß soll ein guter Tor-Vorbereiter sein, sein Marktwert beläuft sich auf etwa drei Millionen Euro.

Leben die 96-Profis weiter diesen Teamgeist vor, könnte der Stimmungsboykott der Hardcore-Fans bald ein Nebenthema ohne größere Wirkung sein. Eines, das von der begeisterten Masse der Anhänger aufgefangen wird. Gibt es sportliche Rückfälle, könnte es wieder zum Hauptthema werden. Ausgestanden ist die Debatte nicht.

© SZ vom 29.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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