Hannover 96:Ära in Gefahr

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Freier kommt man auch im Training nicht zum Kopfball: Jordan Torunarigha bringt Berlin in Führung. (Foto: Swen Pförtner/dpa)

Nach der desolaten Vorstellung beim 0:2 gegen Hertha BSC bleibt ein Bekenntnis zu Hannover-Trainer Breitenreiter aus, der Klubchef bangt um sein Werk.

Von Jörg Marwedel, Hannover

Es gibt eine merkwürdige Parallele zwischen Hannover 96 und dem ungeliebten Rivalen Eintracht Braunschweig. Nicht nur, aber vor allem dann, wenn ihr Team extrem schlecht spielt, singen die Fans vehement von der großen Vergangenheit. Bei der Eintracht, die gerade Gefahr läuft, in die vierte Liga abzusteigen, lebt dann das Jahr 1967 wieder auf, in dem der Klub zum einzigen Mal Deutscher Meister wurde. Bei 96, das nach dem 0:2 gegen Hertha BSC mal wieder auf einem Abstiegsplatz der ersten Liga angekommen ist, preisen sie dann 1954, als Hannover nach 1938 zum zweiten Mal Meister wurde, sowie den DFB-Pokal-Sieg im Jahr 1992.

Diese Art Anfeuerung in der zweiten Halbzeit nützte aber auch nichts. 96-Trainer André Breitenreiter musste am Samstag von der "schlechtesten ersten Halbzeit" reden, "seit ich hier Trainer bin". Das sind knapp 21 Monate, in denen der Klub die Rückkehr in die Bundesliga schaffte und vergangene Saison recht souverän im Mittelfeld landete. Klubchef Martin Kind verweigerte nach der Partie jeden Kommentar und sagte Medientermine ab. Nur Manager Horst Heldt musste in die Bütt. Er hatte schon vorher seine Teilnahme an einer Sonntags-TV-Talkshow zugesagt. Da musste er nicht nur über das 0:2 sprechen, sondern über ein ganzes Problempaket, das dazu führen könnte, dass die 20-jährige, in weiten Teilen erfolgreiche Ära Kind dem Verein um die Ohren fliegt.

Es geht in Hannover schon lange nicht mehr allein um das Versagen auf dem Rasen, aber auch das ist ein Thema: Stürmer Niclas Füllkrug beklagte eine miserable Körpersprache, wollte aber die Kader-Qualitätsfrage lieber nicht stellen. Er vermisse "Typen" in der Mannschaft, die in schwierigen Situationen helfen, sagte er - eine kritische Notiz gegenüber der sportlichen Führung, die es nicht schaffte, "Typen" wie die abgewanderten Salif Sané oder Martin Harnik im Sommer gleichwertig zu ersetzen. Die Frage, was ihm Mut für das Auswärtsspiel in Mainz mache, beantwortete Füllkrug so: "Da muss ich mal überlegen."

Das "Zusammenstehen", das Hannovers Torwart Michael Esser in dieser Lage fordert, ist wohl eher romantisches Wunschdenken. Heldt, der schon auf Schalke mit Breitenreiter zusammengearbeitet hatte, vermied ein klares Bekenntnis zum Aufstiegstrainer von 2017, zu dem er ein exzellentes Verhältnis habe, wie er betont.

"Freifahrtsscheine" gebe es nicht in diesem Geschäft. Jedoch genieße "André im Verein großes Vertrauen", es sei "eine Selbstverständlichkeit, in der Krise Vertrauen auszusprechen". Übersetzt hieß das wohl, dass Mainz die letzte Chance für den gebürtigen Hannoveraner Breitenreiter ist, um "den Bock umzustoßen", so Heldt.

Dem Plädoyer einiger Profis, der Trainer mache einen "Superjob", hält Heldt entgegen: "Wir brauchen Lippenbekenntnisse auf dem Platz." Tatsächlich hat Hannover die schlechteste Bilanz nach 13 Spieltagen seit 47 Jahren - und bereits 28 Gegentore. Auch diesmal durften die Berliner Jordan Torunarigha (44.) und Vedad Ibisevic (73.) fast unbedrängt einköpfeln. Nur 43 Prozent der Zweikämpfe gewann 96.

Doch das sportliche Problem ist nur das eine. Es wird bald eine außerordentliche Mitgliederversammlung geben, die nach einer erfolgreichen Unterschriftenaktion der Opposition gegen Vereinschef Kind stattfinden muss. Die Kind-Gegner wollen die Mehrheit im Aufsichtsrat übernehmen. Zudem heißt es, sie hätten fünf Kandidaten, die mit Millionensummen Kind als Präsidenten und Geschäftsführer ablösen wollen, was dieser bestreitet. Auch der Streit um die von Kind geforderte Aufhebung der 50+1-Regel für Hannover wurde erneut angeheizt. Die Deutsche Fußball Liga droht 96 laut Sport-Bild mit Punkte-Abzügen oder gar Lizenz-Entzug, wenn eine Satzungsänderung bei 96, die gegen diese 50+1-Regel verstoße, nicht zurückgenommen werde. Die Regel besagt, dass Stammvereine in Deutschland die Mehrheit an den ausgegliederten Profi-Kapitalgesellschaften halten müssen.

Was sind da schon die Bürden der Berliner, die zuvor sechs Spiele sieglos waren? Nicht mal die taktisch gewagte Aussage von Hertha-Trainer Pal Dardai vor der Partie, es werde "in Hannover nichts passieren, wenn wir unser Potenzial abrufen", hatte die Gastgeber angestachelt. Stattdessen hatte Dardai mit der neuen Doppelspitze Ibisevic und Selke Erfolg - und fühlte sich in seiner Einschätzung bestätigt. Mit dem Formanstieg von Abwehrspieler Torunarigha, der auch die Flanke zum 0:2 gab, und dem genesenen Mittelfeldlenker Marco Grujic hatte Hertha wieder mehr Klasse.

Die kritischen Hannover-Fans machten wegen der bundesweiten Anti-Montagsspiele-Demo eine Halbzeit so wenig Alarm wie in der ganzen Vorsaison, als sie wegen Kinds Übernahme-Plan fast durchgängig schwiegen. Das Verrückte damals: das vom Aufstieg euphorisierte Team gewann trotzdem oft. Doch der Rausch ist vorbei. Die Ära Kind könnte schlimmstenfalls mit einem Abstieg enden.

© SZ vom 03.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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