Handballer Julius Kühn:Einer denkt nicht nach

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14 Treffer bei 16 Versuchen: Nach drei Partien ist Julius Kühn, 26, der erfolgreichste Torschütze des deutschen Teams. (Foto: Robert Michael/dpa)
  • 14 Treffer bei 16 Versuchen: Im bisher bei der EM so enttäuschenden deutschen Nationalteam ist Julius Kühn der effektivste Spieler.
  • Einen Spieler mit seiner Dynamik gibt es in der DHB-Auswahl nicht noch mal.
  • Die Erklärung seines Laufs: Kühn kann den Kopf ausschalten.

Von Joachim Mölter, Wien

Es läuft gut für Julius Kühn, sowohl an der Dartscheibe als auch auf dem Handballfeld. Egal, ob es darum geht, einen Pfeil aus knapp zweieinhalb Metern Entfernung in ein nicht mal einen Zentimeter breites Feld zu werfen oder einen Ball aus neun, zehn, elf Metern in eine kaum erkennbare Lücke zwischen Torwart und Pfosten - bei der Europameisterschaft tut das gerade kein deutscher Handballer präziser als der Rückraumspieler vom Bundesligisten MT Melsungen.

Nach drei Partien ist Kühn, 26, der erfolgreichste Torschütze seines Teams, mit 14 Treffern bei 16 Versuchen. Von den Top 20 des gesamten Turniers hat keiner eine höhere Trefferquote - 88 Prozent. Zuletzt hat der Rechtshänder am Montag beim 28:27 gegen Lettland mit acht Toren dazu beigetragen, dass sein Team in die Hauptrunde kam. "Bis zur 50. Minute haben wir im Angriff gute Lösungen gefunden, meistens dank Julius Kühn", lobte Bundestrainer Christian Prokop nach dem schwer erzitterten Sieg. Der Kieler Kreisläufer Patrick Wiencek formulierte es drastischer: "Julius hat uns allen den Arsch gerettet."

Seine Dynamik wurde schmerzlich vermisst bei der Heim-WM vor einem Jahr

Nach der mäßigen Vorrunde in Trondheim/Norwegen mit einer Klatsche durch Titelverteidiger Spanien (26:33) und zwei wenig überzeugenden Siegen über die EM-Neulinge Niederlande (34:23) und Lettland ist der fast zwei Meter große und fast zwei Zentner schwere Kühn nun die Hoffnung in Person für die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB). Die hat sich vor der EM das Halbfinale zum Ziel gesetzt und muss sich jetzt in der Hauptrunde in Wien gegen vier stärkere Gegner durchsetzen, um es zu erreichen: Weißrussland (Donnerstag/ARD), Kroatien (Samstag/ZDF), Gastgeber Österreich (Montag/ARD) und schließlich Tschechien (Mittwoch/ZDF, jeweils 20.30 Uhr).

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"Mit Rückraumtoren und einer guten Abwehr- und Torhüterleistung werden wir so ein Spiel wie gegen Weißrussland gewinnen", kündigte Prokop vor der ersten Partie in der Wiener Stadthalle an: "Wir haben Topkreisläufer, dafür braucht man aber Räume, und Julius war gegen Lettland jemand, der ganz stark Verantwortung übernommen hat."

Tatsächlich ist er hinter seinem Klubkollegen Kai Häfner auch bester Vorlagengeber des DHB-Teams bei dieser EM. Häfner hat schon zehn Tore vorbereitet, Kühn sechs. Paul Drux und Philipp Weber, die als Spielgestalter im Rückraum im Grunde dafür zuständig sind, ihre Nebenleute einzusetzen, haben es bislang auf je fünf gebracht.

Dabei ist Julius Kühn nicht wirklich ein Passgeber, er ist ein Shooter, wie man die wurfgewaltigen Männer für die einfachen Tore im Handball nennt. Einer, der notfalls mit kurzem Anlauf und aus größerer Entfernung den Ball wie einen Laserstrahl über die Abwehr hinweg in den Torwinkel zischen lassen kann. Diese Dynamik wurde schmerzlich vermisst bei der Heim-WM vor einem Jahr, die Kühn wegen eines Kreuzbandrisses verpasste. Mit ihm wäre womöglich mehr drin gewesen als Platz vier - so einen wie Kühn gibt es in der DHB-Auswahl ja nicht noch mal.

Umso unverständlicher, dass Bundestrainer Prokop den Präzisionsschützen gegen Spanien kaum einsetzte. Exakt 8:46 Minuten durfte Kühn mithelfen, das Debakel zu verhindern, das reichte gerade für zwei Tore. Es war nicht Prokops einzige merkwürdige Personalentscheidung, die selbst Experten nicht verstehen.

Dass Kühn auch gegen die Niederlande (23:18 Minuten) und Lettland (25:15) nicht einmal die Hälfte der 60 Minuten auf dem Feld war, rührt daher, dass er nur im Angriff zum Einsatz kommt. In Melsungen macht er zwar auch die Abwehrarbeit, aber "ich habe mit Christian vor dem Turnier die Absprache getroffen, dass wir hier zwei Spieler haben, die das besser ausfüllen", erzählte Kühn. Die Entscheidung des Bundestrainers hat er akzeptiert; seine Hilfsbereitschaft bot der einst beim EM-Gewinn 2016 nachnominierte Kühn aber schon vor dem Turnier an: "Ich versuche, mehr und mehr Verantwortung zu übernehmen."

Julius Kühn ist derzeit der einzige Nationalspieler, dem alles leicht von der Hand geht, Pfeile wie Handbälle. "Das hat man ab und zu, und das wünscht man sich natürlich öfter", sagt er: "Es ist ja einfacher, wenn man es schafft, den Kopf auszuschalten. Man denkt dann nicht jedes Mal nach: Nehme ich den Wurf? Oder soll ich den Ball lieber abspielen? Man macht's einfach."

Dass sich das Nachdenken nicht immer abstellen lässt, weiß er natürlich auch, er hat es gerade erst gegen Lettland miterlebt: "Man kuckt auf die Anzeigetafel - wir führen nur noch mit vier, mit drei, mit zwei: Da schaltet sich automatisch der Kopf ein", erklärte er: "Man denkt dann, der nächste Ball ist ganz wichtig, den darfst du nicht wegwerfen. Und dann passiert genau das." Selbst ihm ist das passiert - aber nur einmal.

© SZ vom 16.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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