Handball:Deutschlands Handball-Casting lohnt sich

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  • Außer Deutschland ist nur Spanien eine verlustpunktfreie EM-Qualifikations-Runde gelungen, Bundestrainer Christian Prokop hat einen erfolgreichen Start hingelegt.
  • Die umstrittene Ablöse für Prokop von angeblich 500 000 Euro an seinen früheren Klub SC DHfK Leipzig scheint sich zu rentieren.
  • Andreas Wolff lobte die "lockere Art" des neuen Chefs am Spielfeldrand, der einem auch helfe, wenn man ein Problem habe.

Von Jörg Marwedel, Bremen

Es gibt Orte, die man im Leben angeblich gesehen haben sollte. Für ehrgeizige Handballspieler zählen im kommenden Januar Zagreb und Split dazu, weil in Kroatien die EM 2018 ausgetragen wird. San Francisco ist ebenfalls ein Flecken, an den es viele hinzieht, allerdings weniger aus sportlichen Gründen: Marcel Schiller, 25, zum Beispiel hatte schon gebucht, um dort den Urlaub mit zwei Freunden zu verbringen. Jetzt bekommt er von seinen Kumpels nur Bilder aus Kalifornien geschickt. Denn Schiller, Profi in Göppingen, erhielt eine nachträgliche Einladung des Bundestrainers Christian Prokop, die ihn vom Überseetrip abhielt. Stattdessen war er nun am Wochenende in Bremen: Dort hat er beim 29:22 (12:13) gegen die Schweiz im letzten Spiel der EM-Qualifikation als Linksaußen ein Debüt gegeben, das besser nicht hätte sein können. Mit sieben Toren war er bester Werfer im deutschen Team.

Schillers Verzicht auf San Francisco hat sich also zumindest sportlich bezahlt gemacht. Er war der Hauptgewinner jenes Castings, zu dem der Coach gebeten hatte, als die vorzeitige EM-Qualifikation mit dem Sieg in Portugal am vorigen Mittwoch feststand. Stammkräfte wie Kapitän Uwe Gensheimer, Hendrik Pekeler, Patrick Groetzki, Patrick Wiencek und Niclas Pieczkowski entließ er schon in die Ferien, dafür nominierte er Talente wie Schiller, Tim Suton, Tim Hornke (beide Lemgo), Marian Michalczik (Minden) und Europameister Erik Schmidt (Hannover) nach.

Die EM-Auslosung ist bereits am Freitag. Das DHB-Team ist in Topf eins gesetzt.

Außer Deutschland ist nur Spanien eine verlustpunktfreie Qualifikations-Runde gelungen, was Prokop zu einem positiven Fazit seiner ersten drei Monate als Bundestrainer veranlasste: Er habe aus dem "großen Pool" der talentierten Profis jetzt fast alle "persönlich kennengelernt", sagte er, und er könne ihnen wie dem Betreuungsstab nur das beste Zeugnis ausstellen. Die Komplimente sind gegenseitig: Auch das Gutachten des Deutschen Handballbundes (DHB) und der Spieler über den Nachfolger des Europameister-Trainers Dagur Sigurdsson fällt prächtig aus. DHB-Vizepräsident Bob Hanning durfte sich mal wieder auf die Schulter klopfen lassen, weil er sich durchgesetzt hatte im internen Ringen um diese Personalie. Die umstrittene Ablöse für Prokop von angeblich 500 000 Euro an seinen früheren Klub SC DHfK Leipzig scheint sich zu rentieren. Man habe eine "überragende Saison" gespielt, fasste Hanning die vergangenen zehn Monate mit der olympischen Bronzemedaille und den Qualifikations-Duellen gegen den WM-Dritten Slowenien zusammen. Nur das 20:21 im WM-Achtelfinale gegen Katar sei ein "negativer Fleck" in der Bilanz. Aber: "Das war unser wichtigstes Spiel für die Entwicklung."

Eine Fähigkeit Prokops hat den Debütanten Marcel Schiller besonders beeindruckt: Der Nationaltrainer habe ihm kurz nach der Einwechslung sofort das Vertrauen erteilt, einen Siebenmeter zu werfen. Das stärkte Schiller derart, dass er neben Jannik Kohlbacher an einer "Initialzündung" im zunächst verkrampften Spiel gegen die Schweiz mitgewirkt habe, wie Prokop feststellte. Beim Gegner ragten der Rhein-Neckar-Löwe Andy Schmid (zehn Treffer) sowie Luka Maros (fünf) heraus.

Torwart Silvio Heinevetter lobte, dass der neue Trainer die Arbeit "akribisch" und "detailversessen" angehe, auch lasse er als kommunikativer Typ im Spielerkreis Diskussionen zu. Heinevetters Torwart-Kollege Andreas Wolff lobte die "lockere Art" des neuen Chefs am Spielfeldrand, der einem auch helfe, wenn man ein Problem habe. Womöglich hat Wolff das gerade selbst erlebt. Denn die von ihm losgetretene Debatte um seine Zukunft beim THW Kiel kam ja nicht nur in seinem Klub nicht so gut an. Jedenfalls gab Wolff in Bremen die beste Vorstellung seit langem.

Nur noch zweimal kommt das Nationalteam vor der Europameisterschaft (12. bis 28. Januar 2018) zusammen, Ende Oktober und dann erst wieder kurz vor dem Turnier. Schon am Freitag findet die EM-Gruppenauslosung statt. Deutschland gehört wie Gastgeber Kroatien, Weltmeister Frankreich und der EM-Zweite Spanien zu den Gruppenköpfen. Und während Prokop trotz der jüngsten Erfolge weiterhin Demut fordert, sagt Andreas Wolff: "Wenn es bei der EM so gut läuft wie in der Qualifikation, werden wir wieder Europameister." Bob Hanning hebt zwar Kroatien, Frankreich und Olympiasieger Dänemark etwas hervor, trotzdem gibt es für ihn keine Favoriten mehr, sondern "viele überragende Mannschaften". Dazu zähle natürlich Deutschland. Nur eins wünschen sich die meisten Nationalspieler nicht: "Gegen Kroatien in Kroatien, das muss nicht sein", findet Silvio Heinevetter.

© SZ vom 20.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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