Hamburger SV:Rettung aus dem Videokeller

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Das runderneuerte Team spielt bis zur 98. Minute wie das alte. Erst ein Strafstoß verhindert eine Heimniederlage gegen Darmstadt.

Von Peter Burghardt, Hamburg

Die alte Hymne ist weg, die Traditionsuhr auch, dafür hat der HSV mal wieder einen neuen Trainer und allerlei neue Spieler. Doch das 1:1 gegen Darmstadt 98 erinnerte am Sonntagnachmittag dann doch - bis sehr kurz vor dem letzten Pfiff - verdächtig an die vergangenen Jahre, als der Hamburger SV zum ersten Mal aus der Bundesliga abgestiegen und dann in seinem ersten Zweitligajahr nicht gleich wieder aufgestiegen war.

Der renovierte HSV spielte erst ganz gut, ließ mehrere Gelegenheiten aus, geriet dann überraschend in Rückstand und fand den Rhythmus nicht mehr - alles wie gehabt. Den Ausgleich bescherte in der achten Minute der Nachspielzeit ein Strafstoß, den Schiedsrichter Robert Hartmann nach ausführlicher Betrachtung der Videobilder in Auftrag gab. Es traf in letzter Sekunde Aaron Hunt, der Hamburger Kapitän.

"Bisschen komisch für uns, unerträglich", fand der Darmstädter Trainer Dimitrios Grammozis die Entscheidung. "Wenn er pfeift, ist es Elfmeter", meinte der Hamburger Kollege Dieter Hecking. Für ihn war der späte Treffer "absolut verdient". Er erinnerte auch daran, dass der HSV vor einem Jahr mit einer 0:3-Abfuhr gegen Holstein Kiel in die Zweite Liga gestartet war. Damals mit Coach Christian Titz, da war das Unentschieden nun ein Fortschritt.

Als zwölften Zugang holt der HSV das englisch-nigerianische Talent Amaechi vom FC Arsenal

Ziemlich verändert hat sich seitdem das Hamburger Personal. Sechs neue Profis hatte Hecking zunächst auf den Platz geschickt, vier weitere Zugänge saßen auf der Bank. Insgesamt zwölf Ergänzungen hat sich der HSV geleistet, der Verkauf von Douglas Santos für zwölf Millionen Euro nach St. Petersburg half. Gerade kam noch das englisch-nigerianische Talent Xavier Amaechi vom FC Arsenal, ein 18 Jahre alter Flügelstürmer, er zeigte sich bereits vor einem Bild von Kevin Keegan.

Auf dem Rasen standen neu: Torwart Daniel Heuer Fernandes aus Darmstadt, Abwehrspieler Jan Gyamerah und Stürmer Lukas Hinterseer aus Bochum, Linksverteidiger Tim Leibold aus Nürnberg, die Mittelfeldmänner Jeremy Dudziak aus St. Pauli und Adrian Fein aus der zweiten Mannschaft des FC Bayern. Statt live der Klassiker "Hamburg, meine Perle" wurden vor dem Anpfiff nur die bescheidenen Lieder "Mein Hamburg lieb' ich sehr" und "HSV forever" vom Band gespielt, was auch Hunt bedauert.

Dann ließ es sich trotzdem erst ganz gut an. In der ersten Hälfte hatte der umgebaute HSV eine Chance nach der anderen und nützte keine, wie gewohnt. Da habe man vieles richtig gemacht, lobte Hecking, nur nicht zielstrebig genug. In der 14. Minute schoss Hunt, zuletzt am Knie lädiert, aus ein paar Metern links vorbei. "Ich war mit dem Kopf schneller als mit dem Fuß", erläuterte er: "Wenn wir 1:0 führen, dann gewinnen wir deutlich." Nach einer knappen Stunde schoss Dudziak nach Doppelpass von Hunt und Bakery Jatta rechts vorbei. Der Münchner Fein, 20, bester Hamburger, beschäftigte den Darmstädter Torwart Marcel Schuhen aus 25 Metern, und einen Elfmeter hätte der HSV schon früher bekommen können nach Patrick Herrmanns Grätsche gegen Leibold. Die Gäste hatten nur ein paar Konter zu bieten und zwei satte Schüsse von Marvin Mehlem.

Das gefiel den HSV-Freunden unter den 44 000 Zuschauern im Volksparkstadion, sie sind für jede Hoffnung dankbar. "Wir vergeben euch alles, solange ihr alles gebt", war auf einem Banner im Fanblock zu lesen. Doch dann begann Halbzeit zwei, und nach 17 Sekunden stand es 0:1. Sardan Dursuns Versuch wehrte Heuer Fernandes ab, der eingewechselte Tim Skarke setzte mit dem Kopf nach - die Innenverteidiger Rick van Drongelen und Kyriakos Papadopoulos waren ähnlich verblüfft wie Heuer Fernandes. "Das darfst du in der Situation nicht kriegen", klagte Hecking. So wurden üble Gedanken belebt, denn bei der 2:3-Heimniederlage nach 2:0-Führung gegen Darmstadt hatte der HSV im Frühjahr angefangen, den Wiederaufstieg zu verspielen.

Hecking holte Jatta und Dudziak vom Feld und schickte die nächsten Neuen hinein, den offensiven Sonny Kittel aus Ingolstadt und den defensiven David Kinsombi aus Kiel. Auch Manuel Wintzheimer, groß geworden beim FC Bayern, durfte sich probieren. Eine angriffsfreudige Besetzung, aber es hätte 0:2 stehen können, weil Darmstadts Tobias Kempe kurz vor Schluss nur um Zentimeter das Tor verfehlte und Mehlem beim Sturmlauf von Papadopoulos umgerissen wurde, wofür der Grieche mit der gelben Karte ordentlich bedient war.

Und dann wurde weitergemacht, bis zur 98. Minute. Wintzheimer rannte in den Strafraum, Dario Dumic rutschte ihm entgegen. Traf er den Ball oder Wintzheimers Fuß? Schiedsrichter Hartmann winkte ab, bevor er sich mit der Videoassistentin Bibiana Steinhaus beriet und sich die Szene noch ein paar Mal ansah. Sein Studium ergab, dass Wintzheimer doch getreten worden war, was Wintzheimer ähnlich sah. Darmstadts Torhüter Schuhen sah das anders, aber er musste es auch nicht entscheiden. "Ich möcht' kein Schiedsrichter sein", sagt er. "Auf keinen Fall."

© SZ vom 29.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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