Gruppe F:Feindseligkeiten erwünscht

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Auch mit 36 Jahren noch immer fokussiert am Ball: Cristiano Ronaldo führt die Auswahl des Titelverteidigers an. (Foto: Bernadett Szabo/Reuters)

Die deutschen Gruppengegner Ungarn und Portugal bestreiten in Budapest das erste EM-Spiel vor vollen Rängen. Nicht nur die Gastgeber sehnen der fiebrigen Atmosphäre entgegen.

Von Javier Cáceres, Budapest

"Poah!", rief der ungarische Abwehrspieler Willi Orban ins Telefon, "das habe ich so vermisst!" Und betonte das Wörtchen "so". Vergangene Woche war's, da sah der Profi von RB Leipzig zum ersten Mal nach langer Zeit wieder voll besetzte Ränge, wenn er vom Rasen auf die Tribünen blickte. Es waren nur Testspiele, in kleinen Stadien. Aber: immerhin. Orban wusste auch dies: dass es am Dienstag noch mal größer, härter, lauter wird, wie früher. Denn Ungarn spielt zum Turnierauftakt im einzigen Stadion der Europameisterschaft, in dem vorab eine Vollauslastung genehmigt worden war: im heimischen Ferenc-Puskas-Stadion zu Budapest. Gegner in der Gruppe F, der auch Deutschland angehört, ist der Titelverteidiger Portugal mit einem gewissen Cristiano Ronaldo.

Mit seinen Leipzigern hätte Orban am letzten großen Spiel mit Zuschauern auf deutschem Boden mitwirken können, in der Champions League gegen Tottenham Hotspur in der Saison 2019/20 - wenn er nicht verletzt gewesen wäre. Im Leipziger Tor stand damals Peter Gulacsi, der sich heute kaum noch erinnern kann, wie das war, mit Zuschauern: "Es war großartig, wieder mit Fans zu spielen. Wir alle haben das vermisst", sagte er zuletzt im Gespräch. Aber dass er sich ein bisschen an das alte, neue Ambiente gewöhnen musste, das gestand der Keeper freiheraus ein.

Es gibt Spieler, die das Publikum brauchen, um ihre Höchstleistung abzurufen. Ronaldo, die portugiesische Galionsfigur, hat es Zeit seines Lebens geliebt, vor vollen Rängen zu spielen, feindselige Stimmungen waren nie ein Hindernis für qualitativ hochwertige Auftritte, als ob in seinem Körper exhibitionistische und masochistische Neigungen wohnten. Wenn Ronaldo Provokationen mit Toren quittierte, choreografierte er seinen Jubel dergestalt, dass er aufreizend gen Tribüne rannte - und dabei sein Ohr mit der Hand vergrößerte. Nach dem Motto: Ich höre nix!?

Vor fünf Jahren brachten die Ungarn die Portugiesen schon mal an den Rand der Verzweiflung

Die Akustik, sie kann auch in anderer Hinsicht eine Rolle spielen, erzählt Gulacsi: "Die Kommunikation ist viel schwieriger. Wir hatten uns schon daran gewöhnt, dass man im leeren Stadion alles hören kann. Das müssen wir noch ein bisschen umstellen, vielleicht weniger Kommandos geben, aber lauter sein." Die andere Seite ist emotionaler Natur: "Für die Fans ist es großartig. Die haben Hunger, live dabei zu sein, Fußball im Stadion zu sehen, das merkt man auch im Stadion. Das ist einfach geil." Nur: Für manchen Akteur erhöht sich auch der Stressfaktor dadurch, zumindest scheint das im Fall von Gulacsi zuzutreffen. Denn bei aller Freude über Spannung und Atmosphäre gesteht Gulacsi auch dieses ein: "Im Vergleich zu den Geisterspielen war ich etwas müder." Wobei ihm als Torwart eine ordnende Rolle zukommt, die ihn ganz besonders zwingt, die Stimmbänder zu strapazieren.

Mit 61 000 Zuschauern gegen Portugal, vermutet der Torwart, "wird das noch extremer". Für den Gegner, Ronaldo hin, Ronaldo her, dürfte die Atmosphäre freilich ähnlich ungewohnt sein. Und dass die Ungarn gegen die Portugiesen zu überraschen wissen, bewiesen sie vor fünf Jahren bei der EM in Frankreich. Dort brachten sie den späteren Turniersieger an den Rand der Verzweiflung. Sie gingen drei Mal in Führung, mussten aber ebenso oft den Ausgleich hinnehmen. Ob sie diesmal so viele Tore erzielen? Ungarns erfahrener Kapitän Adam Szalai (FSV Mainz 05) ist eine Stütze, die mindestens ebenso wichtig ist wie Gulacsi und Orban. Er tut sich allerdings mitunter schwer, Tore zu erzielen. Und kurz vor dem Turnier musste der vielleicht größte Hoffnungsträger der Ungarn, Dominik Szoboszlai, passen. Er leidet seit einem halben Jahr unter Adduktorenproblemen und hat für seinen aktuellen Klub RB Leipzig noch kein Spiel bestritten.

Daran gemessen sind die Personalprobleme der Portugiesen weniger dramatisch, auch wenn sie gewissermaßen über Nacht auftauchten. Am Sonntag wurde Außenverteidiger João Cancelo kurzerhand ausgemustert, ein positiver Corona-Test. Als Ersatz holte Trainer Fernando Santos den U21-Nationalspieler Diogo Dalot, 22, aus dem Urlaub in Dubai nach Europa zurück. Der Verteidiger vom AC Mailand, der vor gut einer Woche mit der portugiesischen U21-Mannschaft das Finale gegen Deutschland verlor, landete am Sonntagabend in Budapest. Dalot war einer der besten Spieler des jüngsten Nachwuchsturniers - und erhielt deshalb den Vorzug vor vermeintlich erfahreneren Spielern.

Die Corona-Fälle? Ein Wechsel nach Paris? Ronaldo geht allen Debatten aus dem Weg

Kapitän Ronaldo versuchte, dem Geschehnis jede Dramatik zu nehmen. "Das ist im Moment kein wichtiger Faktor. Es tut mir leid für João, aber je mehr Aufmerksamkeit wir dieser Sache schenken, desto mehr Konzentration geht verloren. Wir sind weder besorgt noch reden wir über Covid-19. Diese Angelegenheit ermüdet die Leute langsam", sagte Ronaldo, der vor ein paar Monaten selbst positiv getestet worden war.

Sicher ist: Ronaldo wird den portugiesischen Sturm anführen. Die Frage, ob er über den Sommer hinaus bei Juventus Turin bleiben wird, ließ er am Montag offen. Zuletzt waren Gerüchte aufgetaucht, er könne die Serie nach nur drei Jahren wieder verlassen, im Gespräch ist unter anderem ein Wechsel zu Paris Saint-Germain.

"Ich spiele seit 18 Jahren auf höchstem Niveau, so was juckt mich nicht mehr", sagte Ronaldo nun. "Wenn ich jetzt meine Karriere beginnen würde und 18 oder 19 Jahre alt wäre, würde ich vielleicht nicht ruhig schlafen können und über meine Zukunft nachdenken. Aber jetzt, mit 36 Jahren ..."

Auch den Debatten um seine bevorzugte Position ging er am Montag aus dem Weg. "Ich fühle mich vorne auf jeder Position wohl - links, rechts, vorne, hinter den Spitzen. Ich spiele, wo immer ich der Mannschaft helfen kann, zu gewinnen, da ist mir egal, wo ich mich am wohlsten fühle", sagte der fünfmalige Weltfußballer. Für ihn gebe es bei seiner fünften Europameisterschaft, ein einziges Ziel: die Titelverteidigung. 17 Jahre nach seiner EM-Debüt im eigenen Land, vor vollen Rängen.

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