Grand Prix am Nürburgring:Ungewissheit an der Reifenfront

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Fernando Alonso: In Silverstone nur knapp Metallteilen entkommen (Foto: dpa)

Die vielen Reifenschäden beim Grand Prix in Silverstone haben Konsequenzen: Die Fahrer drohen vor dem Rennen auf dem Nürburgring schriftlich mit Boykott, der Automobilweltverband schreibt den Teams exakt vor, wie sie mit den Pneus umzugehen haben. Ob damit das Problem gelöst werden kann, ist allerdings nicht sicher.

Von René Hofmann, Nürburgring

Der Sarkasmus von Jenson Button sagt schon viel. Button, 33, ist einer der erfahrensten Fahrer im Formel-1-Feld. Williams, Renault, BAR, Honda, BrawnGP, McLaren: Button hat viel hinter sich. 2009 wurde er überraschend Weltmeister. Button hat schon einiges gesehen. Was er vergangenen Sonntag in Silverstone erlebte, war aber auch für ihn neu: Reifenplatzer bei voller Fahrt, an vier unterschiedlichen Autos, aber immer am gleichen Pneu - dem links hinten. Seitdem gibt es in der Formel 1 zwei große Fragen: Wie konnte das passieren? Und wie lässt sich derlei künftig verhindern?

Eine Theorie gibt den scharfkantigen Randsteinen in Silverstone eine Teilschuld. Die Formel 1 erwägt nun Rache. Die sogenannten Kerbs sollen abgeschliffen werden. Was Button davon hält? Der Brite legt gespieltes Mitleid in die Stimme und sagt: "Ahh, die armen alten Kerbs. Die haben's wirklich nicht leicht. Erst donnern wir volle Kanne dagegen. Und nun sollen sie auch noch geschleift werden. Ich finde, wir sollten etwas tun. Vielleicht eine Kerbs-Charity. Das wäre eine gute Sache."

Buttons Vortrag ist originell. Er wäre auch lustig, wenn die Lage nicht so ernst wäre. Die platzenden Reifen waren tatsächlich lebensgefährlich. Am deutlichsten bekam das Ferrari-Fahrer Fernando Alonso zu spüren. Als der Reifen am McLaren von Sergio Perez hochging, flogen Gummibrocken und scharfkantige Metallteile nur Zentimeter an Alonsos Kopf vorbei.

"Zum Glück war ich rechts neben Perez", sagt der Spanier. Links hätte er vermutlich etwas abbekommen. Was er da auf sich zukommen sah, hat dem 31-Jährigen aber auch so nicht gefallen. Bei Tempo 300, so Alonso, seien Reifenteile "wie ein Messer: Das geht vorne ins Visier rein und hinten am Helm wieder raus". Leicht spöttisch fügt er noch an: "Was nicht so schön ist."

Um die Sicherheit beim Großen Preis von Deutschland an diesem Wochenende (Qualifikation Sa., 14 Uhr; Rennen So., 14 Uhr) auf dem Nürburgring sorgt sich der Spanier aber angeblich nicht. Pirelli hat auf die Schnelle stabilere Hinterreifen gefunden. "Sie wissen schon, was sie zu tun haben", sagt Alonso, dann flicht er aber doch noch ein "vielleicht" in den Satz.

Das Unbehagen ist vielerorts zu vernehmen. Auch beim Neuling Esteban Gutierrez. Er hatte in Silverstone ebenfalls einen Reifenschaden. Der aber ging ein wenig unter, weil sich der Pneu nicht mit einem großen Knall verabschiedete und der Schaden kurz vor der Boxeneinfahrt auftrat. Gutierrez konnte schnell abbiegen und das Rad wechseln lassen. An seinem Sauber hatte sich an einem Vorderreifen ohne Ankündigung die Lauffläche gelöst. Ein ganz anderer Schaden also. Neue Vorderreifen aber wird es am Nürburgring nicht geben.

Eine echte Erklärung, was ihm widerfuhr, hat Gutierrez auch nicht bekommen. "Es gab viele Erklärungen", sagt er im Plauderton, "aber es gab auch einige Varianz in den Erklärungen." Soll heißen: Genaues weiß man immer noch nicht. Auch deshalb tun sich alle Beteiligten so schwer, einen angemessenen Umgang mit der Problematik zu finden. Einerseits ist die Lage ernst und die Unsicherheit groß. Aber so wirklich zugeben mag das keiner. Die Show soll ja weitergehen. Alle leben davon.

Das ganze Dilemma zeigt eine Erklärung, die die GPDA am Donnerstagabend verbreitete. Die Grand Prix Drivers' Association ist so etwas wie die Fahrergewerkschaft. Aber keineswegs alle Fahrer gehören ihr an. Kimi Räikkönen (Lotus), Valtteri Bottas (Williams) und Adrian Sutil (Force India) sind nicht dabei. Sebastian Vettel ist einer der GPDA-Sprecher, Jenson Button ebenfalls. Nur wenige Stunden nach seinem gepflegten Sarkasmus-Vortrag verkündete die GPDA: Einerseits habe sie "Vertrauen, dass die Änderungen an den Reifen die gewünschten Verbesserungen bringen". Andererseits hätten die Mitglieder beschlossen, wenn sich die gleichen Probleme wie in Silverstone zeigten, das Deutschland-Rennen abzubrechen.

Wie das aber aussehen soll, ist schleierhaft. Mitten im Grand Prix wird kaum einer rechts ranfahren und den Weg für die Nicht-GPDA-Mitglieder freimachen. Button selbst hatte vor der Sitzung erklärt: "Im Rennen folgt man nur seinen Instinkten. Wir werden nie anhalten, wenn uns das keiner sagt." Die Boykott-Drohung hat deshalb nur eines erreicht: Sie hat das Thema, das gerade abebbte, wieder befeuert. Wie alle anderen Akteure geben auch die Fahrer in dem Konflikt keine gute Figur ab.

Die wiederkehrenden Appelle, jetzt müssten aber wirklich einmal alle an einem Strang ziehen, werden ständig konterkariert. Ausdauernd verfolgt jeder nur die eigenen Interessen. Bisweilen erreicht das Theater absurde Züge. Erst kurz vor dem Start des ersten Trainings auf dem Nürburgring gab der Automobilweltverband bekannt, dass ab sofort vorgeschriebene Werte für den Luftdruck und die Sturzeinstellung an den Achsen gelten. Um diese zu überwachen, könnten bald Reifen-Wächter durch die Boxen patrouillieren. Eine schöne Vorstellung.

Auch der erbitterte Streit, um die möglichen Vorteile für Mercedes aus den geheim gehaltenen Übungsrunden im Auftrag von Pirelli nach dem Spanien-Grand-Prix erscheint nun in einem neuen Licht. Als Strafe wurde der Rennstall von den Testfahrten für Talente ausgeschlossen, die es mitte Juli in Silverstone gibt. Um neue Reifen zu testen, sollen dort nun auch die Grand-Prix-Piloten einen Tag lang fahren dürfen. Eine prima Gelegenheit eigentlich, gleichzeitig etwas fürs eigene Team und die Sicherheit zu tun. Das aber gefällt plötzlich auch nicht mehr jedem. Jenson Button hat angekündigt, wenn er einen Tag lang immer nur den gleichen Reifen bewegen dürfe, habe er darauf keine Lust. "Werd' ich bestimmt nicht machen", hat Button gesagt. Ganz ohne jeden Sarkasmus.

© SZ vom 06.07.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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