Dass er die Grenze seines Daseins als Sportler erreicht hatte, bemerkte Alexander Knappe beim Frühstück. Am Morgen vor der finalen Golfrunde seiner Saison saß er alleine an einem Tisch in seinem Hotelrestaurant in Katar, als die Tränen kamen. Eigentlich sollte er zum Golfplatz aufbrechen, wo noch einmal 18 Löcher vor ihm lagen, die letztlich über die Fortsetzung seiner Karriere entscheiden würden, doch Knappe ging direkt zurück auf sein Zimmer: "Dort bin ich fast zusammengebrochen."
Ein minutenlanger Heulkrampf suchte ihn heim, er klammerte sich an seinem Bett fest, schluchzte vor Verzweiflung: "So laut habe ich noch nie in meinem Leben geweint", sagt Knappe im Gespräch mit der SZ, in dem es um diesen Morgen in Katar vor knapp eineinhalb Wochen geht - aber auch um ein gutes Ende, wenige Stunden später.
"Ich habe mich langsam beruhigt, mir gesagt, dass alles okay ist, dass meine Familie für mich da sein wird, falls ich es nicht schaffe", sagt Knappe. Dann fuhr er zum Golfplatz, wo sein Caddy ihn bereits aufgeregt erwartete, weil man normalerweise nicht zu spät kommt an solchen entscheidenden Tagen wie dem Sonntag beim Katar Masters in Doha. Ein Turnier, über das weniger berichtet wird - das dafür aber Geschichten erzählt, wie die des 32-jährigen Knappe und seinen Kampf mit sich selbst.
Die finale Gelegenheit, sich in der europäischen Golf-Rangliste noch unter die besten 116 Spieler zu spielen, bot sich für ihn in Katar. Die besten 116 bleiben auf der obersten europäischen Tour, alle anderen verlieren ihre Startberechtigung - und in den meisten Fällen damit auch ihren Lebensunterhalt. In der zweiten Liga, auf der sogenannten Challenge Tour, geht es nur noch ums Überleben als Profi: "Nur die besten drei Spieler machen dort Gewinn", sagt Knappe, der als 117. der Rangliste die Mehrheit seiner Sponsoren verloren hätte, seinen Trainer, Manager und Physiotherapeuten vermutlich nicht mehr hätte bezahlen können: "Das wäre es für mich gewesen, wenn ich es nicht geschafft hätte."
Golfer sind zu 100 Prozent für den eigenen sportlichen und damit auch wirtschaftlichen Erfolg verantwortlich
Knappe allerdings fand nach der Erfahrung des Morgens auf einmal "ein ganz besonderes Vertrauen", spielte gut und wurde 114., weshalb er nun doch weitermachen kann - und im Rückblick einen Einblick in die enorme Belastung gibt, die Einzelsportler in ihren Karrieren jedes Jahr durchmachen müssen. Knappes Geschichte hat mit einem Golfschläger zu tun, der ihm nicht mehr gehorchen möchte und mit einem kostenintensiven Sport, der einen um die ganze Welt führt.
Aber sie lässt sich genauso übertragen auf alle anderen Sportarten, die nichts garantieren: Wer im Fußball einen Vertrag unterschreibt, bekommt im Gegenzug ein gesichertes Gehalt und den Rückhalt eines Teams. Wer im Golf eine Karriere startet, ist zu einhundert Prozent für den eigenen sportlichen und damit auch wirtschaftlichen Erfolg verantwortlich.
"Der Druck baut sich stetig auf", sagt Knappe. Kulminiert sei die mentale und körperliche Belastung zwar in seinem Hotelzimmer in Katar, entstanden ist sie bei einer monatelangen Reise um die Welt. Im März, in Südafrika, verspielte Knappe innerhalb der letzten Löcher mit wenigen, schlechten Schlägen einen möglichen Sieg. Stattdessen schmerzte ihn zwei Wochen später bei einem Turnier in Korea sein Bein bis zur Hüfte rauf und hinderte ihn am Golfschwung. Die Verletzung schleppte er mit in den Sommer hinein, wo eine desaströse Bilanz folgte: Bis September verpasste er bei 14 von 16 Turnieren den Cut und musste schon nach den ersten zwei Runden abreisen. Kein Cut heißt: Keine Punkte, kein Preisgeld, viel Druck.
Der wurde irgendwann allgegenwärtig. "Am meisten spürt man das während den freien Minuten bei Turnieren", sagt Knappe: "Ich gehe oft alleine essen, da kommen die Gefühle dann hoch." Unterhaltungen mit anderen Spielern, dem Trainer oder Manager drehen sich nur noch um die schlechte Bilanz, der Schläger wird zu einem Fremdkörper während der Runden: "Ich habe nur noch ans Scheitern gedacht, ich hatte keine Chance, die Gedanken wegzubekommen." Knappe stellte sich vor, wie ihn die Zuschauer beobachten, wie ihn seine Mitspieler mit den Gefühlen kämpfen sehen auf dem Platz - "und was die wohl von mir halten."
Kaum ein Sportler kann mit solchen Gedanken Erfolg haben, im Golf allerdings ist es noch brutaler: Körperliche Fitness, Training, Fleiß, das alles ist weitaus weniger entscheidend als das, was während der Turniere im Kopf vorgeht. "Man muss Spaß und Freude am Golf haben, um locker zu sein und man muss locker sein, um gut spielen zu können", sagt Knappe. Und selbst dann folgen nicht automatisch Siege, weil man die vielleicht bessere Leistung eines anderen Spielers nicht beeinflussen kann - anders als etwa im Tennis, wo einem der Gegner gegenübersteht.
"Ein Grübler" sei er, sagt Knappe über sich selbst, was nicht allzu hilfreich sei in einem Sport, in dem ein Ego mehr hilft als zu viel Selbstreflexion. Außer, man dreht den Spieß um. Während in Saudi-Arabien und den USA Deals ausgehandelt werden, die Milliarden in den Golfsport bringen sollen, um die Millionäre am oberen Ende der Nahrungskette zufriedenzustellen, sieht Knappe den Wert gar nicht erst im Geld und in dem damit verbundenen Erfolg, sondern in den Momenten, die das Auf und Ab seiner Karriere beschreiben - auch in jenem Heulkrampf in Katar.
"Im Nachhinein sind es diese Momente, die unser Leben als Sportler ausmachen - die aber auch für einen persönlich wertvoll sind", sagt er: "Ich habe dem Druck standgehalten und viel über mich gelernt. Das ist im Leben viel mehr wert als Geld."