Die Entscheidung fiel beim Autofahren, auf dem Weg zum nächsten Hike&Fly-Abenteuer in der Schweiz; dort, wo man es mit den Straßenverkehrsregeln ja besonders genau nimmt. Celine Lorenz stand im Stau, und da kann man trotz der strengen Straßenverkehrsregeln schon mal den besten Kumpel anrufen und fragen, ob man das wirklich machen soll mit der Bewerbung für diesen Wettkampf: Red Bull X-Alps, seit 20 Jahren das wohl härteste Gleitschirm-Rennen der Welt. Zig hundert Kilometer quer durch die Alpen, an 15 Wendepunkten entlang von Kitzbühel bis zum Mont Blanc und zurück nach Zell am See.
Erlaubte Fortbewegungsmittel: der Gleitschirm und die eigenen Füße. In der Nacht ist Ruhepflicht: Von neun Uhr abends bis sechs Uhr morgens dürfen sich die Teilnehmer nicht weiter als 250 Meter von ihrer Ruheposition weg bewegen, mit einer Ausnahme: Jeder hat einen sogenannten Nightpass, mit dem er ein Mal in der Nacht laufen darf. Erlaubt ist zudem ein Unterstützer, der im Camping-Bus für Verpflegung, Nachtlager und motivierende Worte sorgt. Ansonsten ist jede und jeder auf sich allein gestellt, bei Wind und Wetter, in Gegenden, die manche Teilnehmer nur von der Karte oder vom Hörensagen kennen.
Bei Celine Lorenz ist es mit der Ortskenntnis schon an Wendepunkt vier vorbei, in Lermoos, westlich der Zugspitze. Vieles, was danach kommt - Piz Buin, Aletsch-Gletscher und so weiter - ist fliegerisch weitgehend Neuland für die 24-Jährige. Dennoch bewarb sie sich für dieses Rennen, vom Auto aus, weil Jakob Schachtl, ihr Unterstützer, gesagt hatte: 'Mach's halt!' Weil er wusste: Die kann gar nicht anders, die muss das versuchen.
Lorenz' linker Knöchel schimmert in allen Regenbogenfarben - sie ist beim Foto-Shooting umgeknickt. "Tut nicht ganz so arg weh, wie es aussieht", sagt sie.
Drei Tage vor Rennbeginn sitzt Celine Lorenz dann auf einer Wiese am Campingplatz Schwarzsee bei Kitzbühel und hat die ersten 37 Kilometer in den Beinen: Ein Prolog war am vergangenen Donnerstag angesagt, von Kirchberg hoch auf den Hahnenkamm, von da runterfliegen nach Kitzbühel, die ersten drei bekamen einen zusätzlichen Nightpass. Celine Lorenz kam als Letzte der vier Frauen und 28 Männer aus 18 Nationen ins Ziel, wie schon bei den Test-Strecken an den Tagen zuvor. Mit Schuld daran: ihr linker Knöchel, der nun in allen Regenbogenfarben schimmert. Beim Foto-Shooting für das Rennen ist sie bei einem harmlosen Hüpfer von einem Felsen übel umgeknickt - schlechter Zeitpunkt für eine Bänderdehnung. Aufgeben war für die Garmischerin aber keine Option. Dass sie das sausen lässt: Da muss schon mehr passieren als ein geschwollener Knöchel. Sie sagt: "Tut nicht ganz so arg weh, wie es aussieht."
Schuld an der zuweilen schmerzhaften Leidenschaft ist ihre Mutter. Die war von Mittenwald auf die Winklmoosalm gezogen, wo sie die Traunsteiner Hütte bewirtete und der Tochter zum elften Geburtstag einen Tandemflug schenkte, vom Unterberghorn hinab nach Kössen. Eine Investition, deren Folgen Mama Lorenz wahrscheinlich nicht absah. "Niemand in unserer Familie fliegt - das war eine totale Überraschung für mich", erzählt Celine, "ich hab' das so genossen! Von dem Tag an war ich Vollgas fasziniert."
Beim Versuch, ihren Freund zu retten, stürzt Lorenz ebenfalls ab
Sofort erkundigt sich die Elfjährige, wann sie den Flugschein machen kann. Antwort: erst mit 16. Fünf Jahre spart sie jeden Cent, das Trinkgeld, das auf der Hütte in ihrem Sparschwein landet - und marschiert schließlich mit ein paar Scheinen und einem Jutesack voller Kleingeld zur Ruhpoldinger Flugschule, um sich für den Kurs anzumelden. "Da hab' ich gleich mal ziemlich oft die Schule geschwänzt", erzählt sie grinsend. Im Schulrucksack stecken keine Bücher, sondern bloß Bleistift, Papier - und der Gleitschirm. Direkt nach dem Unterricht in Traunstein trampt sie nach Ruhpolding zum Fliegen.
Bald geht es weiter weg: Österreich, Frankreich, Italien, Schweden, Dänemark, immer zum Fliegen. "Es ging um nichts anderes mehr", sagt sie, "prompt hab' ich im ersten Jahr das Abi nicht geschafft." Im zweiten Versuch klappt's dann, danach macht sie eine Konditorlehre in Kössen und Innsbruck - weil man da so schön fliegen kann.
Alles scheint in die richtige Richtung zu laufen für Lorenz - bis sie einen fürchterlichen Unfall miterleben muss. Bei einer gemeinsamen Hike&Fly-Tour vor vier Jahren im Zillertal verunglückt ihr Freund beim Abstieg vom Gipfel zum Startplatz tödlich, sie will zu ihm absteigen, stürzt ebenfalls ab, kann sich irgendwie auffangen - und muss dann mit seinem Handy Hilfe rufen, weil sie ihres beim Sturz verloren hat. Sie sagt: "Eigentlich ist es grotesk, dass ich heute dennoch Hike&Fly-Wettkämpfe mache, aber irgendwie gibt es mir auch Energie. Ich bin einfach viel für ihn mitgeflogen."
Nur das Akrobatik-Fliegen, eine Spielart des Gleitschirmfliegens, lässt sie nun bleiben. Auch da hatte sie einen Schockmoment: Mit einem Kumpel war sie vom Monte Baldo zu einem Synchronflug gestartet, als die beiden tausend Meter über dem Gardasee gleich beim ersten Manöver kollidierten, sich ineinander verhakten und den Rettungsschirm ziehen mussten, um nicht im Sturzflug aufs Wasser zu klatschen.
"Fallschirmspringen würde ich gern viel öfter machen", erzählt die 24-Jährige, "aber das ist leider so teuer."
Sie hat drastische Dinge erlebt. Andererseits: Ohne Adrenalin kommt sie nicht aus, die Fliegerei sei wie eine Sucht für sie. Sie springt auch schon auch mal mit dem Fallschirm aus dem Heißluftballon: "Fallschirmspringen würde ich gern viel öfter machen", erzählt sie, "aber das ist leider so teuer." Geld verdient sie nach einer Ausbildung zur Tandem-Lehrerin mittlerweile mit Flügen vom Kreuzeck runter nach Garmisch. Für einen geregelten Beruf war bislang keine Zeit, wie sie sagt: "Die Vorbereitung auf X-Alps war schon ein Vollzeitjob."
Nun ist sie also unterwegs, am Sonntagmittag in Kitzbühel gestartet, hoch zum Streif-Start gelaufen und von da als Letzte Richtung Mont Blanc losgeflogen. Während am Dienstagnachmittag die Besten schon den Eiger sehen, erblickt Celine Lorenz auf Rang 29 viel weiter östlich erst das Brauneck. Rund zwölf Tage werden die Athleten insgesamt unterwegs sein, je nach Wind und Wetter, bevor sie auf einem schwimmenden Floß in Zell am See zur finalen Landung ansetzen. Man kann nur guten Flug wünschen - und möglichst wenige Gewitter.