Radsport:Er kann alles - außer Sektflaschen öffnen

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Der souveräne Teil des Sieges: Biniam Girmay aus Eritrea distanziert beim Giro d'Italia die prominente Konkurrenz. (Foto: Massimo Paolone/AP)

Biniam Girmay aus Eritrea soll dem afrikanischen Radsport zum Aufschwung verhelfen. Beim Giro gelingt ihm der größte Triumph seiner Karriere - doch dann muss er aussteigen, weil ihm bei der Siegerehrung ein irres Malheur passiert.

Von Johannes Aumüller, Santarcangelo di Romagna/München

Champagner, Sekt, Korken, all diese schrecklichen Wörter nimmt Biniam Girmay nicht in den Mund. Aber ein klein wenig lächeln kann er schon, als er am Mittwochmittag von der medizinischen Untersuchung kommt. "Natürlich bin ich traurig. Aber mein Auge braucht jetzt etwas Ruhe", teilt Girmay per Video mit - und damit verabschiedet sich der Mann aus Eritrea just im Moment seines größten sportlichen Triumphes aus dem Giro d'Italia.

Denn dieses Auge war das Opfer der wohl kuriosesten Siegerehrung in der Radsportgeschichte geworden. Am Abend zuvor hatte Girmay auf dem Podium in Jesi gestanden, völlig beglückt von diesem sporthistorischen Moment, in dem er als erster schwarzer Afrikaner bei einer der drei großen Landesrundfahrten einen Etappensieg feierte. Doch dann ging es an die obligatorischen Feierrituale, Girmay beugte sich vor, um eine Flasche Champagner zu öffnen, nestelte am Papier - und plötzlich schoss ihm der Korken mit einer solchen Wucht ins linke Auge, dass die Dottores eine "Blutung in der vorderen Augenkammer" feststellten und zum Ausstieg rieten.

Girmay hat nun also ein paar unerwartete Ruhetage, und vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn er die Trainingseinheiten auf dem Rad um ein paar Trainingseinheiten an der Flasche ergänzt. Denn wenn nicht alles täuscht, wird er in absehbarer Zeit noch häufiger in die Verlegenheit kommen, Siegeszeremonien auszuführen. Der 22-Jährige ist die Rad-Entdeckung dieser Saison, ein Mann für schwere Sprints ebenso wie für Klassiker; und er ist damit zugleich derjenige, der das Gesicht für einen veränderten Stellenwert des afrikanischen Radsports sein soll.

Leicht verkorkte Siegerehrung: Biniam Girmay nach dem Öffnen der Sektflasche. (Foto: Massimo Paolone/LaPresse/Imago)

"Für die Zukunft afrikanischer Fahrer wird dies so viel ändern", sagte Girmay bereits kürzlich, als er als erster Afrikaner den schweren Halbklassiker Gent-Wevelgem gewann. Zwar gibt es in der Szene schon länger den Versuch, den afrikanischen Radsport zu stärken, kürzlich auch durch die Vergabe der WM 2025 nach Ruanda. Doch bisher gelang das nicht in dem gewünschten Umfang, im Gegenteil: Zuletzt schien es sogar eher wieder Rückschritte zu geben. Die erste Welle an eritreischen Radsportlern, die in der Mitte der Zehnerjahre ins Peloton kam, war zwar stark, erreichte aber nicht die Erfolge, die man sich erhofft hatte. Unter den 550 Profis in der World Tour sind derzeit nur acht Afrikaner. Das einzige afrikanische Team aus der obersten Kategorie löste sich im Vorjahr auf.

"Ich habe mich gefragt, ob dem eritreischen Radsport nicht die Puste ausgeht", sagte Michel Theze, seit vielen Jahren Trainer an einer vom Rad-Weltverband betriebenen Institution namens World Cycling Center. Der Erfolg von Girmay "kommt zum besten Zeitpunkt, er wird für einen zweiten Wind sorgen".

In Eritrea ist Radsport populärer als der Fußball

Eritrea steht besonders im Fokus, wenn es um die Zukunft des afrikanischen Radsports geht. In dem Land in Ostafrika gibt es traditionell eine riesige Begeisterung und ein riesiges Potenzial für den Sport. Radsport ist dort populärer als der Fußball in Deutschland, er sei "die fünfte Staatsreligion", schrieb mal der Economist.

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Das ist ein Erbe der italienischen Kolonialzeit, aber auch eine Frage der Topographie, weil es in dem Land zwischen dem Küstenstreifen am Roten Meer und dem Hochland so steile Anstiege gibt und das Leben in der Höhe Ausdauersportlern ja generell viel bringt. Aber zugleich gibt es eine sehr politische Komponente.

Eritrea ist eine der brutalsten Diktaturen des Globus, mitsamt einem verpflichtenden Militärdienst, der für Kritiker einer Zwangsarbeit gleichkommt. Sehr viele Menschen fliehen deswegen aus dem Land, auch wenn das Vertreter des Staates immer anders darstellen. Aber für den seit 1993 und wohl bis ans Lebensende regierenden Staatspräsidenten Isayas Afewerki spielen das Fahrrad und der Radsport eine wichtige Rolle.

Der Radsport ist in Eritrea ein Weg in die Freiheit

Als vor etwas mehr als einem halben Jahrzehnt die ersten eritreischen Profis im Peloton der World Tour auftauchten, berichteten sie, wie sich der Präsident persönlich um sie und ihre Ausrüstung gekümmert habe. Und wenn man sich bei der Tour 2015 mit Daniel Teklehaimanot unterhielt, der damals überraschend für ein paar Tage im begehrten Bergtrikot fuhr, konnte es passieren, dass er sein Handy nahm und einem voller Stolz die Aufnahmen mit dem Präsidenten zeigte. Radprofis kommen auch (weitgehend) um den obligatorischen Militärdienst herum, wegen dem so viele Menschen fliehen. Der Radsport ist in Eritrea ein Weg in die Freiheit.

Girmay selbst hat als Kind erst einmal als Fußballer angefangen, ehe er sich auf den Radsport konzentrierte - auch auf Empfehlung seines Cousins Meron Teshome, einst eritreischer Landesmeister und Afrikameister im Zeitfahren. "Radfahren bedeutet Leben in Eritrea", sagte dieser mal. Irgendwann sah Girmay den Giro im Fernsehen, und er sei dann "mit dem Traum losgefahren, eines Tages dabei zu sein".

Als er 18 Jahre alt war, entdeckten ihn die Vertreter des UCI-Zentrums, im Vorjahr landete er bei der kleinen belgischen Mannschaft Intermarché. Sein Potenzial kennt die Branche spätestens seit der U23-WM im Herbst, als er Silber holte. Dass es nun aber so schnell mit den nächsten Schritten ging, war doch überraschend. Sein Vertrag läuft bis 2024, aber längst haben ihn andere auf dem Zettel; laut Medienberichten liegen Offerten vor, die ihm ein Jahressalär von einer Million Euro bringen können. Und eine Botschaft gab es nach seinem Sektkorken-Malheur von seinen Unterstützern noch: Wenn er jetzt draußen ist, dann kann er sich wenigstens für die Tour de France vorbereiten - und dort den nächsten sporthistorischen Moment erzwingen.

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