Gewinner und Verlierer der WM-Vorrunde:Im Dunkeln lauert der böse Wolf

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Mal beißt er, mal trifft er: Für Luis Alberto Suárez Díaz, kurz Luis Suárez ist die WM vorbei. (Foto: dpa)

Die Gruppenphase ist gespielt, Zeit für ein Fazit: Sepp Blatter darf sich endlich über gute Berater freuen, dabei droht ihm noch mehr Volkszorn. Der südamerikanische Kontinent entfaltet seine volle Fußballkraft und Luis Suárez beißt sich wie ein Kannibale aus dem Turnier. Die Tops und Flops der Vorrunde.

Von Thomas Hummel, Recife

Es sei ein komisches Turnier, sagte der deutsche Torwart Manuel Neuer zuletzt. Er staunt über die Wucht, welche die WM in Brasilien entfaltet. Wobei sein Trainer Joachim Löw ja schon seit Monaten von einer sagenhaften Urkraft spricht, die hier zur Entfaltung komme. Nun, diese Urkraft hatte in der Vorrunde für einige Beteiligte unangenehme Folgen, für andere schöne. Manch einer muss sich sogar verstecken. Sieben Sieger und sieben Verlierer der ersten Turnierhälfte.

Sieger:

  • 1. Sepp Blatter: War beim Eröffnungsspiel einmal kurz im Fernsehen zu sehen, wie er auf der Haupttribüne in São Paulo flezte. Es dröhnte sogleich ein unwahrscheinlich lautes "Buuhh!!" durch Brasilien. Hat sich sonst nirgendwo blicken lassen, und das war mit Abstand das Beste, was er tun konnte. Der Anführer der Kolonialmacht Fifa hat offensichtlich gute Berater.
  • 2. Das Klima: Als die Deutschen schon ein wenig zitterten vor den hoch gepushten Klinsmännern, da schickte der brasilianische Wettergott einen stundenlangen Sturzregen. "Das war Gold wert", schnaufte Per Mertesacker durch, der in London "cats and dogs" vom Himmel gewöhnt ist. Die Italiener hingegen hatten an gleicher Stelle (Recife) zur gleichen Uhrzeit (13 Uhr) so enorm unter der Affenhitze gelitten, dass sie gegen Costa Rica verloren. Engländer und seltsamerweise auch Spanier und Portugiesen gingen bei den Hallenbadspielen in Manaus bzw. den Sonne-von-oben-Partien mittags im Nordosten des Landes unter. In Fortaleza litten selbst Brasilianer und Ivorer. Das Klima dominiert diese WM. Wer Brasilien erobern will, der muss mehr können, als gut Fußball spielen.
  • 3. Louis van Gaal: Zu Hause im stolzen Holland ist - man kann es nicht anders sagen - der Teufel los. Das Land ist erregt über die eigene Mannschaft. Überall nur Kritiker. Mark van Bommel: "Wir zeigen reinen Reaktionsfußball basierend auf Verteidigung. Gerade für einen Niederländer sieht das nicht schön aus." Ronald de Boer: Der Fußball "sorgt taktisch für Schmerzen in den Augen." Die Zeitung Algemeen Dagblad: "Eine Beleidigung der alt-holländischen Schule." Die Kollegen von De Volkskrant schrieben: "Oranje spielt wie eine Investorengesellschaft: Wenn das Resultat gut ist, kommen die Boni von selbst." Die Niederländer haben übrigens mit drei Siegen die ungemein schwere Gruppe B als Erster abgeschlossen. Sie haben den Welt- und Europameister Spanien 5:1 besiegt, am meisten Tore von allen Teams in der WM-Vorrunde erzielt. Es zeigt sich: Wenn es einer mit dem Teufel aufnehmen kann, dann der Trainer Louis van Gaal.
  • 4. Lothar Matthäus: Nicht nur, dass er nun wegen seiner 25 WM-Spiele eine Urkunde erhalten hat und Guinness-Buch der Rekorde steht. Nein, Lothar Matthäus erlebt eine wahre Renaissance bei dieser WM. Der heute 53-Jährige war 1998 der bislang letzte Libero der WM-Geschichte und nun kehrt die Dreier-Kette in den Fußball zurück, in der der mittlere Verteidiger ein wenig an den alten "Freien Mann" erinnert. Costa Rica, Mexiko, Argentinien, die Niederlande, Chile - alle betrieben die alte, neue Taktik mit Erfolg. Und was sagt Lothar? Er vermisse den Libero, äh nein, er vermisse "Drecksäcke" im Team von Joachim Löw. Irgendwann einmal war das vielleicht das gleiche.
  • 5. Hersteller von Zäunen und Absperrungen: Der Fußball gehöre dem Volk, sagt die Fifa gerne. Das mag sein, aber die Fußball-Weltmeisterschaft gehört zunächst einmal den Sponsoren, den Sicherheitsfirmen, den VIPs sowie den Herstellern von Zäunen und Absperrungen. Da müssen einige Unternehmen den Reibach ihres Lebens gemacht haben, so viele Barrieren aus Eisen, Gatter, Geländer und Stacheldraht benötigt diese WM. Nicht nur rund um die Stadien sieht es bisweilen aus wie in einem Grenzgebiet. Auch vor den sogenannten "Fanfesten" in den Innenstädten müssen die Menschen durch ein Labyrinth aus Metall finden. Wer zu Hause einen Zaun für seinem Garten benötigt, sollte nach dem Finale am 13. Juli die Nummer von Herrn Blatter wählen, vielleicht kann der weiterhelfen.
  • 6. Sanitäter: Kann sich noch jemand an diese jämmerliche Trage erinnern, mit der einst Carlos Valderrama in Mailand vom Spielfeld geholt wurde? Vier Griffe, das Stück Stoff hing mächtig durch unter dem Mittelfeldspieler mit den schweren Haaren. Der Kolumbianer hielt sich den Knöchel und verzog das Gesicht. Um gleich wieder aufzuspringen und weiterzuspielen. Nicht nur der Fußball, auch die Arbeitsbedingungen für die Sanitäter bei einer WM haben sich weiterentwickelt. Die aktuelle Trage hat viel mehr Griffe, da hängt auch nichts mehr durch. Nicht einmal, als der englische Physiotherapeut Gary Lewin wegen eines verunglückten Jubelsprungs abtransportiert wurde. Diese rote Schublade ist die schönste, praktischste Trage der WM-Geschichte. Nur wer drin liegt, dürfte wenig Freude an ihr haben.
  • 7. Südamerika: Das brasilianische Volk wird noch erheblichen Ärger mit dieser WM haben, spätestens wenn auch der Letzte merkt, dass diese neuen Fußball-Tempel hinterher niemand braucht und einige völlig ungenutzt in der Gegend herumstehen. Für den Fußball des Kontinents ist diese WM dagegen ein Segen. Die erste Copa Mundial auf heimischen Boden seit 1978 zeigt ihre Wirkung. Alle Südamerikaner bringen Tausende Zuschauer mit und freuen sich über Heimspiele. Alle wissen, wie es ist, in Fortaleza, Manaus oder Porto Alegre anzutreten. Fünf von sechs Mannschaften haben die Vorrunde überstanden. Von den nördlichen Nachbarn aus Mittel- und Nordamerika sind drei von vier noch im Wettbewerb. Die Chancen stehen gut, dass die alte Regel greift: In Amerika können Europäer den Titel nicht gewinnen.

Finale: Deutschland Argentinien
:Fußball-WM 2014 Spielplan

Täglicher Spielplan zur Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien mit Gruppeneinteilung und allen WM-Spiel-Terminen.

Verlierer:

  • 1. Sepp Blatter: Muss sich während der WM in Brasilien in irgendwelchen Luxushotels verstecken. Das ist natürlich menschenunwürdig und auch ehrabschneidend. Der arme Herr Blatter! Doch der 78-Jährige kündigte bereits an: "Das Beste kommt noch." Er wird nämlich trotz aller Warnungen nach dem Finale den Weltpokal übergeben. Zusammen mit Gisele Bündchen, doch das wird einen Sturm der Entrüstung auch nicht verhindern. Jetzt braucht er den Pokal nur noch einem Argentinier überreichen und es könnte durchaus vorkommen, dass die Brasilianer das neu aufgebaute Maracanã gleich wieder einreißen.
  • 2. Asien: Für den größten Kontinent dieser Erde ist die WM schon vorbei. Japan? Hat total enttäuscht. Südkorea? Überfordert. Iran? Wacker, aber nicht gut genug. Australien, das zuletzt in den asiatischen Verband wechselte? Mutig, aber in Gruppe B nur halb ernst genommen. Selbst Russland, Mitglied des europäischen Verbands mit großem Gebiet in Asien, ist raus. Gegen Algerien! Für das bisher größte Ärgernis dieser WM war ebenfalls ein Asiat zuständig: Der Japaner Yuichi Nishimura pfiff im Eröffnungsspiel einen Elfer für Brasilien, über den die Welt zürnte. Nun kommt auch Katar immer stärker in Bedrängnis und muss um die WM 2022 fürchten. Die Asiaten werden diese WM schnell vergessen.
  • 3. Borussia Dortmund: Joachim Löw hat die Außenverteidiger abgeschafft. Und damit auch irgendwie den BVB von dieser WM ausgeschlossen. Marcel Schmelzer hat er nach Blessuren aus dem Kader gestrichen, Marco Reus verletzte sich im letzten möglichen Moment vor der Abreise nach Brasilien. Statt Kevin Großkreutz und Erik Durm spielen nun die Innenverteidiger Jérôme Boateng und Benedikt Höwedes (ein Schalker!) auf Außen. Wäre nicht Mats Hummels in bemerkenswerter Form, der BVB hätte keinen Anteil an der deutschen Mission. Auch sonst ist der Anteil des Klubs an der Veranstaltung eher mickrig: Sokratis werkelt noch tapfer bei den Griechen, Borussia-Zugang Adrian Ramos stürmt für Kolumbien. Ciro Immobile kann sich indes jetzt schon in seiner neuen Heimat eingewöhnen. Doch wer weiß: Am Ende freut sich Trainer Jürgen Klopp über ausgeruhte, erholte WM-Verhinderte und legt in der neuen Saison mächtig los.
  • 4. Italien: Cesare Prandelli musste was loswerden. Der Trainer der Squadra Azzurra war gerade mit seiner Mannschaft verdient ausgeschieden. Seine Mannschaft war zu alt, spielte zu behäbig, musste sich gar beißen lassen. Prandelli trat zurück - um dem Land allerdings in diesem einen Moment den Spiegel vorzuhalten. Und was die Heimat da sah, war eine hässliche Fratze. Er stellte das Abschneiden der Fußballer in einen Kontext mit dem Zustand seiner Heimat. "Wir haben keinen Sinn für Patriotismus", erklärte der 56-Jährige, "Wir wurden mit einer Aggressivität kritisiert, als wären wir eine politische Partei." Er geißelte eine Gesellschaft, die immer unsolidarischer ist, in der jeder ein "Shareholder in eigener Sache" sei. "Es gibt so viele unterschiedliche Interessen da draußen, jeder denkt nur an seine eigene Sache, uns ist der Gemeinschaftssinn abhanden gekommen." Rumms. Diese Rede an die Nation saß.
  • 5. Ordner in Fortaleza: Wenn in Brasilien etwas nicht erlaubt ist, dann wird penibel darauf geachtet, dass die Regeln auch alle einhalten. Ob diese Regeln nun sinnvoll sind oder nicht, ist egal. Ordnung muss sein. In Fortaleza gingen deshalb die "Stewards" im Estádio Castelão gegen die Banner der deutschen Fans vor, rupften sie von der Brüstung, kassierten einige ein und stritten mit den Anhängern. Angeblich störten diese Fahnen das von der Fifa vorgegebene, klinisch reine Bild des WM-Stadions. Das Zeigen von bunten Fahnen ist nicht erlaubt, also weg damit! Es gab einen kleinen Aufruhr im deutschen Block und viel hätte nicht gefehlt, dann wäre daraus ein Tumult entstanden. Die Fifa entschuldigte sich sogar am nächsten Tag für diese Aktion und gab den örtlichen Organisatoren die Schuld. Die reagierten bestimmt recht irritiert, dass ihr Auftraggeber nicht mehr zu seinem Auftrag stehen wollte. Blöd gelaufen.
  • 6. Der große, böse Wolf: Luis Suárez ist der Bösewicht dieser WM. Er hat wieder zugebissen, zum dritten Mal in seiner Karriere, diesmal beklagte der Italiener Chiellini eine Wunde an der Schulter. Der Vampir, der Kannibale, der Beißer, Hannibal Lector, der Hai - an Vergleichen fehlte es nicht. Die Fifa sperrte den Uruguayer für neun Länderspiele und für vier Monate für alle Aktivitäten im Fußball. Ronaldo, früherer Weltmeister und heute OK-Chef, sagte: "Ich habe nie jemanden gebissen. Ich weiß, dass Beißen weh tut, meine kleinen Kinder haben mich auch schon gebissen - und ich habe sie dafür bestraft. Bei mir zu Hause bedeutet das: Ab in den dunkeln, schwarzen Raum mit dem großen, bösen Wolf!" Im Fall von Suárez würde das allerdings nicht gut ausgehen für den Wolf. Der müsste es schließlich mit dem ganzen uruguayischen Volk aufnehmen, das sich herzhaft mit seinem Stürmer solidarisiert. Mit 3,5 Millionen "Urus" ist nicht zu spaßen. Suárez selbst schrieb in seiner Verteidigung an die Fifa auf spanisch, dass es "in keinster Weise wie beschrieben passierte, als Biss oder Absicht, zu beißen." Im Gegenteil: "Im Moment des Aufpralls habe ich die Kontrolle verloren, wurde instabil und bin auf meinen Gegner gefallen", beteuerte Suárez.
  • 7. Franz Beckenbauer: Dem Kaiser hat eigentlich niemand etwas vorzuschreiben. Weiß das dieser Michael J. Garcia nicht? Der Chef-Ermittler der Fifa schickte einen Fragenkatalog zur Vergabe der Weltmeisterschaften 2018 und 2022 an den damaligen Wahlmann Beckenbauer und erwartete doch tatsächlich, dass dieser antworten würde. Dabei kamen die Fragen auf Englisch daher. Auf Englisch! Der Kaiser wohnt in Kitzbühel, da gibt es neuerdings viel mehr Russen. Am Ende musste der Kaiser tatsächlich von seinem Thron heruntersteigen und diese Fragen beantworten. Beckenbauer hatte eine nie gesehene Strafe erhalten, durfte nicht zur WM reisen und auch nichts mehr im Fußball unternehmen. Sogar ein Werbespot an der Copacabana wurde einkassiert, weil Beckenbauer dort zu sehen war und auf Englisch (!) was vom netten Fußball erzählte. Nun wurde die Sperre zwar aufgehoben, doch Beckenbauer will nicht mehr. Eine WM ohne den Franz! Das gab es zuletzt, als in Deutschland noch Konrad Adenauer regierte.
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