Fußball in England:Der Güterzug rollt auch am "Boxing Day"

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Die Entscheidung: Diego Costa (rechts) erzielt im Londoner Weihnachts-Derby gegen West Ham United das 2:0 für Tabellenführer FC Chelsea. (Foto: Clive Rose/Getty Images)
  • In der englischen Premier League rollt der Ball traditionell auch am 2. Weihnachtsfeiertag, dem sogenannten "Boxing Day".
  • Dabei liefert der FC Chelsea im Londoner Derby gegen das Überraschungsteam West Ham United eine überzeugende Leistung ab und gewinnt 2:0.
  • Die Fans der Hammers weisen dezent darauf hin, dass Chelsea dieses Jahr wohl nur in der Champions League seine Grenzen aufgezeigt bekommen könne.
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Von Raphael Honigstein, London

Das ganze Abendland legt die Füße hoch, das ist, wie jedes Jahr, die Chance der Briten: Sie strömen hinaus in die grauen Straßen unter dem grauen Himmel, komplette Familien mit grauen Gesichtern - in stiller, fröstelnder Pflichterfüllung. Irgendjemand muss es ja machen.

"Boxing Day", Fußball am zweiten Weihnachtstag, ist im Zeitalter der Premier League zu einem eigenen, vom christlichen Hintergrund gänzlich unabhängigen Feiertag geworden, an dem die Insulaner ihre Andersartigkeit zelebrieren und das British Empire wieder die Welt regiert, zumindest auf den Bildschirmen und für ein paar Stunden. Football's coming home.

"Boxing Day" verwirrt die Ausländer

Den in den Vereinen beschäftigten Ausländern kommt das beim ersten Mal alles höchst merkwürdig und übertrieben vor. "Verrückt, unmöglich", nannte der Niederländer und Southampton-Coach Ronald Koeman den Spielplan zwischen Weihnachten und Neujahr. Sein Landsmann, Manchester-United-Trainer Louis van Gaal, gab seinen Kickern am 25. Dezember, einen Tag vor dem 3:1 gegen Newcastle, sogar frei - diese in England unerhörte Maßnahme lässt sich als versteckter Protest verstehen. "Ich glaube an den Spieler als Mensch, deswegen ist auch sein Umfeld wichtig," sagte der Holländer van Gaal: "Es ist besser, wenn sie mit ihren Frauen und Kindern zusammen sind."

"Boxing Day"-erprobtere Menschen wissen dagegen, dass Widerstand zwecklos ist. José Mourinho, Verteidiger "britischer Werte", versicherte, wie sehr er den Weihnachtsfußball liebe. Vor dem Londoner Derby gegen das überraschend starke West Ham United hatte sich der Portugiese dazu auch ungewöhnlich festtagsmilde gezeigt und seinem Gegenüber jede Menge Honig ums Maul geschmiert: "Big" Sam Allardyce sei für ihn womöglich der "Trainer des Jahres", säuselte Mourinho vor dem Spiel: "Mit einer Mannschaft, die jeder im Abstiegskampf erwartet hatte, Vierter zu sein, ist fantastisch." Nach dem vorherigen 0:0 gegen die "Hammers" an der Stamford Bridge hatte sich Mourinho noch über "Fußball aus dem 19. Jahrhundert" der damals arg destruktiven Gäste echauffiert. Doch das seien "dumme, blöde Worte" gewesen, entschuldigte er sich nun.

Tatsächlich haben die Ost-Londoner mit ihrem von den Klubeigentümern David Gold und David Sullivan explizit gewünschtem Offensivfußball die beste Hinrunde seit 1985 gespielt und schon 31 jener 40 Punkte erreicht, die ihnen 2013/14 den 13. Platz sicherten. Für höhere Aufgaben kommt die Allardyce-Truppe wohl trotzdem eher nicht in Frage. Bei Chelseas 2:0 (1:0) am zweiten Weihnachtstag erwies sich West Ham als einigermaßen gut organisierte Elf - ohne besondere Fähigkeiten. Ihr Spiel ist ganz auf Mittelstürmer Andy Carroll fixiert, jenen Mann, der 2011 für irrwitzige 45 Millionen Euro von Newcastle zu Liverpool gewechselt war. Ohne Flanken von den Außenpositionen, die Chelsea konsequent und mit der Coolness eines Klasseteams verhinderte, erhielt Carroll den Ball nur mit dem Rücken zum Tor, 30 Meter weg vom Gehäuse. West Ham bekam so nicht mal die Chance, zu einer Chance zu kommen. Mit dem 1:0, einem Eckball-Abstauber von John Terry (32.), waren die Gäste zur Pause gut bedient.

Torjäger Diego Costa verkörpert ideal Mourinhos Fußball

Das Geschehen war so einseitig, dass sich sogar die Gäste-Fans einen besseren Gegner für Chelsea wünschten: "Barcelona wird euch kriegen", skandierten sie. Über diese Drohung können die Anhänger des Tabellenführers aber entspannt lächeln. Chelsea ist derzeit nicht nur das einzige englische Team, dem man volle Funktionstüchtigkeit nachsagen kann, sondern auch im internationalen Vergleich eine perfekt konfigurierte Sieg-Maschine.

In der stets geschlossen verschiebenden Defensive verteidigt Kapitän Terry, 34, wie eh und je mit grimmiger Entschlossenheit. Vor der Abwehr bilden Nemanja Matic und Cesc Fàbregas ein kongeniales Paar. Die drei offensiven Mittelfeldspieler Willian, Oscar sowie der von Spiel zu Spiel stärker werdende Eden Hazard variieren ständig die Positionen und schalten bei Ballverlust sofort in den Turbo-Gegenpressing-Modus. Und in Mittelstürmer Diego Costa, dem Torschützen zum 2:0 (62.), hat Mourinho jenen legitimen Nachfolger von Altmeister Didier Drogba gefunden, den sein streng geplanter Güterzugfußball benötigt; eine technisch beschlagene Dauernervensäge, die Gegenspieler unablässig mit Ellbogen und Schubsern malträtiert und noch dazu weiß, wo das Tor steht. Das Match hätte auch 7:0 ausgehen können.

Am Sonntag muss der gefühlte Meister schon wieder zum nächsten Termin, gegen Southampton, aber rein gar nichts deutet momentan drauf hin, dass sich Mourinhos Elf von dem überdrehten Tempo aus dem Rhythmus bringen lässt. Überraschende Ergebnisse, wie sie die Tradition auf der Insel zu dieser Jahreszeit eigentlich vorschreibt, sind mit diesem Chelsea nicht zu machen.

© SZ vom 27.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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