Fußball-EM:Warum es gut war, die EM auf 24 Teams aufzublähen

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Ungeheuer flink, gescheit und in Bremen Ersatz: der ungarische Tempomacher Laszlo Kleinheisler. (Foto: dpa)

Kleinheisler, Hoolahan und Halldorsson: Nicht die bekannten Namen prägen die Gruppenphase. Das Turnier ist ein Fest für Fußball-Hipster.

Ein Kommentar von Sebastian Fischer

Es zählt selbst für Liebhaber des Fußballs zu den schwierigen Aufgaben, Viktor Skripnik zu verstehen. Viktor Skripnik, das ist der ukrainische Trainer des Bundesligisten SV Werder Bremen. Nach Spielen seiner Mannschaft spricht er je nach Ausgang ein verbittertes oder ironisches, in jedem Fall aber genuscheltes Ukrainisch-Deutsch. Er lässt des Öfteren mit einer Taktik spielen, die ohne Offensiv-Esprit daherkommt, in der Bundesligatabelle ist dann kurioserweise von Bremer Defensivproblemen zu lesen. Andererseits hat Skripnik für die entscheidenden Spiele dann doch immer irgendwie eine Lösung gefunden - Bremen ist ja, wie Fußball-Liebhaber natürlich wissen, nicht abgestiegen. Doch bevor das nun zu weit führt, ein brandaktuelles Rätsel, das der Trainer Viktor Skripnik den Fußballliebhabern in Europa aufgegeben hat: Wieso, zum Henker, hat er eigentlich diesen ungeheuer flinken und gescheiten Ungarn Laszlo Kleinheisler nicht ein paar Mal öfter aufgestellt?

Diese EM ist eine EM für ausgewiesene Fußball-Liebhaber

Kleinheisler, 22, stand in der abgelaufenen Bundesligasaison 190 Minuten auf dem Platz, also genau 21 Minuten länger als in nur zwei Spielen dieser Europameisterschaft. Kleinheisler, das ist übrigens dieser kleine rothaarige Mann, der die ungarische Nationalmannschaft am Samstagabend mit seinen Tempoläufen und Zuspielen in die Spitze zum vierten Punkt bei dieser EM geführt hat. Kleinheisler, das ist somit auch die Personifikation einer These, die diese nun fast schon abgeschlossene, erstmals auf 36 Spiele aufgeblähte Gruppenphase charakterisiert (ausnahmsweise auf rein sportliche Weise): Diese EM ist eine EM für ausgewiesene Fußball-Liebhaber. Genauer gesagt: Für Liebhaber der Fußball-Nische.

Es wäre zu viel des Lobes für den vom Turnier offiziell ausgesperrten, suspendierten Uefa-Präsidenten Michel Platini, ihn dafür zu beglückwünschen, dass er Fußball-Liebhabern diesen Gefallen getan hat. Er hat den Spielplan ja vor allem für den Wahlkampf bei seiner letzten Präsidentschaftswahl in die Länge gestreckt. Aber es ist, so blöd es klingt, dann schon irgendwie sein Verdienst, dass die Fußball-Nerds dieses Kontinents auf ihre Kosten kommen. Sie können Kleinheislers Läufe bestaunen, vom letzten Außenristpass in der Karriere des Tomas Rosicky schwärmen, über isländische Deckungs-Schemata und den Torhüter Halldorsson philosophieren und behaupten, dass sie Marek Hamsik vom SSC Neapel ja schon immer für einen der besten Fußballer Europas gehalten haben - und nicht erst jetzt, wo er für die Slowakei ständig Bälle in den gegnerischen Winkel zimmert.

Der Held der ersten Woche heißt weder Mesut noch Mario, sondern Dimitri

Gelegenheitszuschauer und Schland-Fans mit schwarz-rot-goldenen Sonnenhüten schauen zwar laut Einschaltquoten ziemlich häufig zu, werden von den ersten beiden Spieltagen dieses Turniers aber eher ratlos zurückgelassen: Der Müller, der sonst immer trifft, bekommt noch so gut wie nichts auf die Reihe. Der Götze, der in jeder Werbung mitspielt, spielt bei den Deutschen dafür so gut wie nie richtig mit, genau wie der Özil mit den Zillionen-Facebook-Fans. Und auch bei den Franzosen ist nicht Paul Pogba mit seiner auffälligen Frisur der auffälligste Spieler, sondern ein Mann namens Dimitri Payet. Der Mann, der die beste Schusstechnik dieser EM präsentiert, hatte ja bislang für die Allgemeinheit eher unter dem Radar bei West Ham United gezaubert. (Wofür ihm allerdings acht Millionen Euro pro Saison überwiesen werden.)

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Die Franzosen sind nicht die einzigen, die einen Payet haben, der vorher eher unter Scouts denn in der Kneipe Gesprächsthema war. Bei den Italienern stürmen nicht wie früher die Inzaghis und Del Pieros, sondern Graziano Pellè vom FC Southampton, der hiesige Kommentatoren vor die Herausforderung stellt, ihn nicht wie den Brasilianer Pelé auszusprechen. Der sogenannte TV-Experte Mehmet Scholl gab zu Protokoll, dass er Romelu Lukaku, den Stürmer des belgischen Teams, diesem feuchten Traum eines jeden Fußball-Hipsters, zuletzt live gesehen habe, als dieser 18 Jahre alt war. Gegen die Iren am Samstag traf der Belgier dann doppelt. Apropos Iren, Hand aufs Herz: Wer kannte vor der EM Wes Hoolahan, 1,68 Meter groß und 34 Jahre alt, der plötzlich das irische Mittelfeld organisiert und ein Traumtor gegen Schweden geschossen hat? Bei einer normalen, 16 Mannschaften starken EM hätte ihn auch niemand kennengelernt.

Die Favoriten erstarken so langsam, Vorrunden-Trends werden obsolet

Doch das Spiel der Belgier am Samstag, dieser am Ende so überzeugende 3:0-Sieg, hat auch etwas anderes angedeutet. Die Favoriten erstarken so langsam, Trends aus der Vorrunde werden in ein paar Tagen obsolet sein, und die Helden wieder die üblichen Verdächtigen. Das beste Spiel in neun Tagen EM? Haben am Freitag die Spanier abgeliefert. Und der beste Spieler war Andrés Iniesta, Europas Fußballer des Jahres 2012. Das bleichgesichtige Passwunder vom FC Barcelona ist zwar nicht der bekannteste Fußballer des Planeten - aber für ein Lob der Nische ist er dann doch zu groß. Bei Werder Bremen jedenfalls wäre Iniesta mit ziemlicher Sicherheit Stammspieler.

© SZ vom 19.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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