Fußball-EM:Wales hat keine Angst zu träumen

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Verlässlicher Fleißarbeiter führt eine Truppe von Außenseitern an: Gareth Bale steht mit Wales im EM-Halbfinale. (Foto: Clive Rose)

Das kleine Land kann es kaum fassen, im EM-Halbfinale zu stehen. Das 3:1 gegen Belgien ist ein taktisches und psychologisches Meisterstück von Trainer Chris Coleman.

Von Frank Hellmann, Lille

Den EM-Organisatoren der nordfranzösischen Studentenstadt Lille ist im Nachhinein eine gewisse Weitsicht zu bescheinigen, dass sie die Fanzone direkt neben dem Gare Europe errichtet haben. Von dort verkehren die Fernzüge, die durch den Eurotunnel ins Vereinigte Königreich fahren. So konnte der eine oder andere Anhänger, der weder Eintrittskarte noch Hotelzimmer für das historische Viertelfinale im Stade Pierre-Mauroy in der Vorstadt Villeneuve-d'Ascq ergatterte, einfach die Wartebereiche des geräumigen Bahnhofs für eine kurze Nacht nutzen.

Eingeschlummert und erwacht mit Glücksgefühlen, die ein Drei-Millionen-Einwohner-Volk im Kollektiv ergriffen hat: Mit dem 3:1 (1:1) im Viertelfinale gegen Belgien hat Wales nach dem Island-Coup gegen England die größte Überraschung dieser EM geschafft.

Das Team trägt zurecht das Drachenlogo auf den Trikots

"Ich bin sprachlos. Wir hätten nie gedacht, dass wir so weit kommen", erklärte der kleine Antreiber Joe Allen bewegt. Mit großem Kämpferherz führte er dieses Team mit an. "Schon das Überstehen der Gruppenphase war ein großer Erfolg. Wir werden das Turnier weiterhin genießen und genauso weiterspielen", versprach Kapitän Ashley Williams nicht weniger berührt, er hatte das 1:1 geköpft (31.). Und der zum "Man of the Match" gekürte Hal Robson-Kanu, der das vorentscheidende 2:1 erzielte (56.), meinte: "Wir haben etwas Fantastisches erreicht. Mich freut es für alle, die hier sind."

Mut, Leidenschaft, Unerschrockenheit. Wenn eine Mannschaft ein Drachenlogo auf feuerroten Trikots zu Recht trägt, dann dieser EM-Novize, der zuletzt bei der WM 1958 eine großes Turnier gespielt hat. Entsprechend groß war die Vorfreude: Als sich Anfang Juni der walisische Kader gemeinsam mit Fans am Hensol Castle für ein gemeinsames Gruppenfoto aufstellte, um die Kampagne "Together. Stronger" mit Leben zu füllen, war das eben kein reiner Marketinggag. Sondern Sinnbild einer Botschaft.

Beinahe rührig, wie Spieler und Betreuer in der verregneten Hauptstadt von Französisch-Flandern am Freitagabend einen Diver vor den freudetrunkenen Anhängern hinlegten, deren "Don't take me home"-Chöre nicht verklingen wollten. Mittendrin auch Gareth Bale, der sich in diesem K.o.-Duell als verlässlicher Fleißarbeiter betätigt hatte. "Wir haben das unglaublich gut umgesetzt, um jeden Zentimeter auf dem Rasen gekämpft und so den Sieg verdient", sagte der 26-Jährige. Der Überflieger von Real Madrid, gemessen an der Ablöse der teuerste Fußballer der Welt, genießt im Nationalteam nicht nur seine zentrale Rolle auf dem Rasen, sondern vor allem den Spirit, den seine Mitspieler ausstrahlen.

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Ansonsten besitzt ja kaum einer aus diesem Team jenen Stellenwert, den ein Eden Hazard, Kevin De Bruyne, Thibaut Coutois oder all die anderen belgischen Stars im Ausland, die meisten davon in der Premier League, genießen. Viele Bale-Kollegen gelten bestenfalls als Anhängsel, Mitläufer oder Reservisten in der höchsten englischen Spielklasse. Torschütze Robson-Kanu, zuletzt beim Zweitligisten FC Reading erfolglos unterwegs, ist seit dem 30. Juni vereinslos.

Dass ein Arbeitsloser die belgische Abwehr düpierte, als stehe ihm eine Schülermannschaft gegenüber, sagt viel über das Selbstbewusstsein aus, das den Underdog durch dieses Turnier trägt. "Es ist gut für mich und meine Familie, dass ich meine Zukunft nun selbst in meinen Händen habe", erklärte der 27-Jährige genüsslich. Sollte wohl heißen: Wird sich schon jemand finden lassen, der einen Robson-Kanu bald verpflichtet.

Die Waliser spielen jedoch nur nachrangig um bessere Bezüge oder neue Verträge. Zuvorderst ist es dem charismatischen Coach Chris Coleman gelungen, die Sinne zu schärfen, dass ein Coup wie dieser nur in einer geschlossenen Gruppe gelingen kann. Und die bitte das tut, was ihr intelligenter Fußballlehrer verlangt. "Als wir in Frankreich angekommen sind", erklärte der am Tag des EM-Eröffnungsspiels 46 Jahre alt gewordene Coleman nun in Lille, "habe ich ihnen gesagt, dass wir ohne Angst auftreten müssen." Und dass er keine Klagen über den ununterbrochenen Spielbetrieb auf der Insel hören wolle.

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Davies und Ramsey sind im Halbfinale gesperrt

Ebenso pragmatisch ging er eine Aufgabe nach der anderen an: Im ersten Gruppenspiel gegen die Slowakei genügten Leidenschaft und Wille, um das erste Erfolgserlebnis einzufahren. Gegen Erzrivale England hielt der Coleman-Truppe lange dagegen - und ließ sich von der späten Niederlage nicht aus der Bahn werfen. Gegen Russland stürmten die Waliser mit Verve und überrannten einen überforderten Gegner, um sich dann im Achtelfinale gegen Nordirland auf einen unansehnlichen Abnutzungskampf einzulassen. Der Triumph gegen den Weltranglistenzweiten Belgien, der sich bereits in der EM-Qualifikation an Wales die Zähne ausgebissen hatte (0:0, 0:1), war ein taktisches wie mentales Meisterstück.

"Wir können kein Spiel mit unserem Ballbesitz beherrschen. Aber wir können unsere Form beeinflussen", meinte Coleman, der den Erfolg am Freitagabend absolut "crazy", verrückt, fand. Geht nach dem Halbfinale in Lyon gegen Portugal vielleicht noch mehr? "Ich denke noch nicht an den Turniersieg. Ich denke immer nur an die nächste Herausforderung. Und die nächste Herausforderung heißt Portugal", antwortete Coleman.

Der einst jüngste Teamchef der Premier League - wegen eines Fußbruchs nach einem Autounfall musste Coleman seine aktive Karriere vorzeitig beenden - ist gezwungen, für den Mittwoch einen ganz neuen Matchplan zu entwerfen. Abwehrspieler Ben Davies und Offensivmann Aaron Ramsey, der sich noch im Spiel verärgert das Trikot über den Kopf zog, sind im Halbfinale gesperrt. "Aaron war einer der besten Spieler des Turniers, das ist ganz bitter. Für beide ist das sehr enttäuschend, in solch einem Semifinale nicht dabei zu sein", erklärte Coleman. Aber davon werden sich weder Trainer noch Spieler einschüchtern lassen. Denn wie warf "Mister Cool" in dieser Nacht noch ein? "Man darf vor Träumen keine Angst haben."

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