50+1 im deutschen Fußball:Das Demokratie-Relikt

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Für die Fans des VfB Stuttgart ist klar: "50+1 muss bleiben!" (Foto: Marijan Murat/dpa)

Der Konflikt zwischen Hertha BSC und Investor Lars Windhorst zeigt erneut, wie einschneidend die Rolle der 50+1-Regel im deutschen Fußball ist - und welchen Wert sie für ihn hat.

Kommentar von Martin Schneider

In der kontroversen Debatte über die 50+1-Regel im deutschen Fußball gibt es eine Sache, bei der sich fast alle einig sind: nämlich, dass sie ein Relikt ist. Ende der 90er-Jahre sah sich der deutsche Fußball mit der Möglichkeit konfrontiert, dass die guten alten eingetragenen Vereine (e.V.) durch Kapitalgesellschaften (GmbH, AG, KGaA) abgelöst werden könnten - was dem damaligen DFB-Präsidenten Egidius Braun missfiel. Der spätere Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga (DFL), Wilfried Straub, soll, so berichtete es später Wolfgang Holzhäuser, der für den DFB dabei war, gesagt haben: "Dann machen wir eben 50 Prozent plus eine Stimme für den Verein." Im Nachhinein betrachtet war es einer der prägendsten Sätze des deutschen Fußballs.

Es war der Versuch, in eine neue Welt zu starten, ohne die alte zu verlassen, und so symbolisiert die Regel auch bis heute die zwei großen Blickwinkel auf den Fußball. Einmal den Unterhaltungsbetrieb mit der Betonung auf Betrieb. Klubs sind Wirtschaftsunternehmen, die Wirtschaftsstrukturen haben sollten, und wer könnte die Sichtweise negieren angesichts der Millionenumsätze? Für die anderen ist Fußball aber mehr, im weitesten Sinne eine soziale Gemeinschaft mit Werten, die sich nicht in Bilanzen abbilden lassen und die deswegen - und das ist der springende Punkt - auch von der sozialen Gemeinschaft respektive den Mitgliedern kontrolliert werden sollte. Das "+1" in der 50+1-Regel gibt der zweiten Sichtweise eine Stimme mehr.

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Allerdings - und an diesem Punkt treffen sich sowohl leidenschaftliche Befürworter als auch leidenschaftliche Kritiker - müsste eine so einschneidende Regel konsequent sein. Und das ist sie nicht. Schon bei der Einführung gab es mit Bayer 04 Leverkusen eine Ausnahme, der VfL Wolfsburg und die TSG Hoffenheim folgten. RB Leipzig ist keine offizielle, aber eine faktische Ausnahme, womit sich schon vier von 18 Bundesligisten, also 22 Prozent, nicht an die Regel halten. Nicht nur nach der Kritik des Bundeskartellamts, das genau auf diesen Missstand hinwies, kam der Vorschlag: Fairness durch Abschaffung der 50+1-Regel. Alle sollen machen dürfen, was sie für richtig halten. Und mehr Geld würde es dadurch auch noch geben.

Dass man sich im Fußball Mitbestimmung nicht einfach kaufen kann, wusste Windhorst vorher

Doch wohin das führt, sieht man in England. Denn einmal verkauft, sind die Mitbestimmung und der Einfluss weg und möglicherweise in Saudi-Arabien statt bei den Stimmzettelhaltern der Jahreshauptversammlung. Die könnten übrigens theoretisch schon jetzt ihr Schicksal in die Hände eines Investors legen. Lars Windhorst etwa könnte in Berlin für seine Vision einer neuen Hertha werben - und wenn die Mehrheit der Mitglieder das gut findet, dann ist alles in Ordnung. Tut sie aber nicht. Dass man sich im Fußball Mitbestimmung nicht einfach kaufen kann, das wusste Windhorst vor seinem 374 Millionen Euro teuren Investment. Wie möglicherweise sogar auch Hasan Ismaik beim TSV 1860 München - der Mutter aller Verein-contra-Investor-Streitereien, wenn man nicht den Zwist zwischen Hannover 96 und Martin Kind so nennen will.

Die 50+1-Regel erzeugt ohne Frage Widersprüche, und dass sie in einem durchkapitalisierten System ein Anachronismus ist, bestreitet auch kaum einer. Und natürlich ist es als Verantwortlicher nicht angenehm, sich mit einer Opposition auseinanderzusetzen, die zum Beispiel ein Katar-Sponsoring nicht gut findet. Aber im Kern ist es ja nichts weniger als ein demokratischer Prozess, zu dem die 50+1-Regel den Fußball verpflichtet und der ihm dadurch eine gesellschaftliche Legitimation weit über die eines Wirtschaftsbetriebes hinaus gibt. Gar nicht so schlecht für ein Relikt.

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