Die Formel 1 kommt vor dem Großen Preis von Deutschland nicht zur Ruhe. Zwischen den Teams und Einheitsreifenlieferant Pirelli ist ein Streit entbrannt, wer die Schuld an den zahlreichen Reifenschäden beim Großbritannien-Grand-Prix am vergangenen Sonntag trägt. Auf der schnellen Strecke in Silverstone waren bei hoher Geschwindigkeit die linken Hinterreifen an den Autos von Lewis Hamilton (Mercedes), Felipe Massa (Ferrari), Jean-Eric Vergne (Toro Rosso) und Sergio Perez (McLaren) explodiert.
Zu den Schäden, die in dieser Form zum ersten Mal aufgetreten waren, veröffentlichte Pirelli am Dienstagabend um 19.40 Uhr eine dreiseitige Erklärung. Der Kernsatz stand auf der ersten Seite, gleich ziemlich weit oben: "Die 2013er Reifen sind sicher, wenn sie korrekt eingesetzt werden."
Aus Sicht der Firma, die 2011 die Nach- folge von Bridgestone antrat und alle Formel-1-Teams mit Reifen beliefert, gab es vier Gründe für die Pannenserie in England: Verkehrt herum montierte Reifen auf der Hinterachse, zu wenig Luft in den Reifen, extreme Einstellung der Sturzwerte an den Achsen und die hohen Randsteine an der Strecke. Auf keinen der vier Faktoren hat Pirelli direkt Einfluss. Die Erklärung war der Versuch, sich reinzuwaschen.
Formel 1:Neue Tests, neue Reifen
Der Automobil-Verband hat auf das Albtraum-Rennen von Silverstone reagiert: Auf dem Nürburging werden neue Reifen eingesetzt, bei den Tests dürfen auch Stammfahrer dabei sein. Der Hersteller Pirelli hat unterdessen einen Grund für die Platzer ausgemacht: Die Pneus seien falsch montiert worden.
Nicht einmal zwei Stunden später aber musste der zurückgenommen werden. Um 21.32 Uhr gab es die nächste Erklärung: ein kurzes Statement von Pirelli-Sportchef Paul Hembery, der offenbar auf Druck maßgeblicher Kräfte der Rennserie reagierte. "In keinster Weise" habe Pirelli jemanden "angreifen" wollen. Das Unternehmen lege Wert darauf, die gute Zusammenarbeit mit den Teams, den Fahrern, dem Automobilweltverband FIA und Vermarkter Bernie Ecclestone zu unterstreichen. Eine Kehrtwende wie aus dem Bilderbuch. Aus der Welt ist die Angelegenheit damit aber noch lange nicht.
Am Mittwochmorgen bestätige Mercedes-Teamchef Toto Wolff in einer Telefonkonferenz, dass etliche Teams in den jüngsten Rennen die Reifen an den Hinterachsen getauscht hätten. Der Pneu, der für die rechte Seite vorgesehen war, wurde links montiert. Und umgekehrt. Die Hinterreifen sind in diesem Jahr asymmetrisch konstruiert. Durch das Montieren auf der an sich falschen Seite hätten sich aber teilweise bessere Ergebnisse erzielen lassen.
Mercedes startete das Experiment bereits beim Saisonauftakt im März in Melbourne. Pirelli, so Wolff, sei über den Tausch aber informiert gewesen und habe keine Bedenken geäußert: "Da kam nie was." Beim Druck, mit dem die Reifen zu befüllen seien, gebe es auch lediglich "eine Bandbreite" als Vorgabe. Kurz: Die Teams seien an der gefährlichen Fetzen-Show keineswegs schuld.
Um zu vermeiden, dass es an diesem Wochenende auf dem Nürburgring wieder so eine gibt, hat Pirelli beschlossen, dass verstärkte Hinterreifen zum Einsatz kommen. Diese tragen neben Stahl auch Kohlefasern in den Reifenschultern. Auf welcher rechtlichen Grundlage diese kurzfristige Änderung aber fußt, ist unklar. In der laufenden Saison darf die Reifen-Konstruktion nur geändert werden, wenn dem alle elf Rennställe zustimmen. Dieser Versuch ist schon einmal gescheitert. Im Training zum Großen Preis von Kanada Anfang Juli waren die mit Kohlefaser verstärkten Reifen getestet worden. Mehrere Rennställe hatten anschließend aber gegen die Einführung votiert. Ob es nun Einstimmigkeit für die Neuerung gibt, ist unklar. Bis Mittwochmorgen gab es keine Abstimmung, für die alle Teams befragt wurden.
Reifendebatte in der Formel 1:Zu viele Fetzen, zu wenig Sicherheit
Die Formel 1 ist nach dem Rennen in Silverstone ratlos. Der Grund für die zahlreichen Reifenschäden ist unklar. Mit welchem Material weitergefahren wird, bleibt umstritten. Die Piloten erwägen sogar einen Boykott des Rennens auf dem Nürburgring.
Die zweite Möglichkeit, eine kurzfristige Änderung herbeizuführen, wurde formal aber auch nicht gezogen. Dafür muss der Automobilweltverband die bisherigen Reifen als "unsicher" einstufen. Nicht nur Mercedes-Sportchef Toto Wolff ahnt: "Jeder Reifenhersteller wird immer alles dagegen tun, dass seine Reifen so bezeichnet werden." Am Ende wird eine Lösung gefunden werden, doch der Fall lässt tief blicken: Die Sporthoheit hat die Reifen- problematik lange unterschätzt. In dem angeblich mit wissenschaftlicher Präzision und Millionen-Aufwand betriebenen Sport wird offenbar wild experimentiert, zum Teil ohne Rücksicht auf das Heil der Fahrer.
Auf das nehmen etliche Teams auch dann keine Rücksicht, wenn sie fürchten, dass Änderungen den Konkurrenten auch nur den Hauch eines Vorteils bringen könnten. Pirelli hatte offenbar die eigenen Produkte nicht im Griff; sonst hätte die Firma diese kaum mit ähnlich großzügig formulierten Betriebsanleitungen verteilt wie bisher. Gut steht in der ganzen Sache keiner da.
Der Deutschland-Grand-Prix ist das neunte von 19 Rennen 2013. Nach dem Eifel-Ausflug ist Sommerpause. Beim Großen Preis von Ungarn Ende Juli soll es dann ganz neue Reifen geben, bei denen um die Struktur, die sich 2012 bewährt hat, die Gummimischungen aus 2013 gegossen werden. Diese Pneus sollen Mitte Juli bei einem Talente-Test in Silverstone geprüft werden. Dafür dürfen bei der Gelegenheit auch die Rennfahrer ans Steuer. Spannend aber wird es, wie es Ende des Jahres weitergeht. Der Pirelli-Vertrag läuft aus. Die Lust, ihn zu verlängern, dürfte nach den Schuldzuweisungen auf beiden Seiten beschränkt sein. Einen neuen Reifenhersteller aber lockt die Formel 1 so auch nicht.