Fifa gegen Torkamera:Wie schön war Wembley!

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"Fehler gehören doch dazu": Die Regelhüter des Fußballs entscheiden sich endgültig gegen technische Hilfe - ein unverständlicher Schritt.

Johannes Aumüller

Es hat in den vergangenen Wochen wahrlich nicht an falschen Schiedsrichter-Entscheidungen gemangelt. Da war das vermeintliche Handspiel von Hoffenheims Per Nilsson im Strafraum, der eindeutige, aber nicht gegebene Treffer von Schalkes Marcelo Bordon oder das klare Abseitstor von Bayerns Miroslav Klose. Stets hieß es danach: Mit einem Chip im Ball, einer Torkamera oder einem Videobeweis hätte das Fehlurteil verhindert werden können. Die Technik-Debatte kochte ein weiteres Mal hoch.

Nun aber ist klar, dass es weiter zu solchen Fehlurteilen kommen kann und kommen wird. Der Fußball-Weltverband Fifa und das für Regelfragen zuständige International Football Association Board (IFAB) entschieden auf einer Tagung am Samstag, "der Technik die Tür endgültig zu verschließen", wie es Fifa-Generalsekretär Jérome Valcke formulierte. Mit großer Mehrheit wurde sowohl die Idee eines Chips im Ball als auch der Einsatz einer Torkamera verworfen. "Die Frage war, sollen wir Technik im Fußball zulassen, und die Antwort war ganz klar: Nein!"

Strikter kann man eine Meinung nicht mehr formulieren. Gänzlich überraschend ist sie freilich nicht: Sowohl der Weltverband als auch das für alle Regelfragen zuständige IFAB, ein Kommissionsrelikt aus dem 19. Jahrhundert, in dem neben vier Fifa-Mitgliedern und einem Delegierten aus England auch Herren aus den anerkannten Fußball-Großmächten Schottland, Wales und Irland sitzen, haben stets eine große Skepsis für Neuerungen gezeigt.

Doch nach Szenen wie dem Abseitstor von Klose gegen Florenz oder dem Handspiel von Frankreichs Thierry Henry im WM-Qualifikationsspiel gegen Irland hatten die Befürworter technischer Hilfsmittel auf ein Umdenken gehofft. Selbst Fifa-Präsident Sepp Blatter deutete zart an, sich unter Umständen ("Sie muss aber hundertprozentig funktionieren und schnelle Ergebnisse produzieren") damit anfreunden zu können. Diese Hoffnung ist nun dahin.

Es ist schon eine ziemlich absurde Situation: Trainer, Spieler und auch die Schiedsrichter fordern für eine Sportart, die immer schneller geworden ist, die mehr denn je über Euro-Millionen und Arbeitsplätze entscheidet und in der es immer wissenschaftlicher und immer verbissener um den Sieg geht, technische Hilfsmittel - nur Fifa und IFAB hängen offenbar mit romantischer Sturheit am Fußball des 19. Jahrhunderts sowie an Szenen wie dem berühmten Wembley-Tor und verteidigen mit den immer gleichen Argumenten ihre Linie. Argument eins: Fußball soll überall auf der Welt nach den gleichen Regeln ablaufen. Argument zwei: Das Einzigartige am Fußball sind die Menschen, und zu Menschen gehören nun mal auch Fehler.

Beide Argumente sind nur schwer haltbar: Der Kreisliga-Fußball unterscheidet sich ja nicht nur vom Niveau her vom Champions-League-Fußball, sondern auch, weil er ohne Schiedsrichter-Assistenten, vierten Mann und Rasenheizung auskommen muss - und manchmal sogar ohne Rasen. Da tut so eine kleiner Chip im Ball als weiterer Unterschied auch nicht mehr weh.

Und die Fehler? Nun, da müssen sich die Herren von der Fifa und vom IFAB nicht beunruhigen, selbst mit einem Chip im Ball gäbe es weiterhin jede Menge Fehler. Torhüter, die sich große Böcke leisteten, Stürmer, die hundertprozentige Torchancen versiebten, und Trainer, die falsche Taktiken wählten. Der Stoff für den Stammtisch wird dem Fußball niemals ausgehen.

Das Fatale an der strikten Anti-Technik-Haltung ist, dass sie eine wichtige und differenzierte Debatte verhindert. Denn unter all den rückwärtsgewandten Gedanken der Regelhüter befindet sich eine berechtigte Frage: "Wenn es mit der Torlinie losgeht, was kommt dann als nächstes?"

Würde also der Pro-Technik-Fraktion ein Chip im Ball ausreichen? Oder sollte es eine Torkamera geben, die nicht nur die Frage "drin oder nicht drin" überwacht, sondern auch den ganzen Strafraum? Oder sollte die Torkamera gar keine Torkamera sein, sondern eine Installation über dem ganzen Spielfeld, die jedes Foul, jedes Handspiel, jeden falschen Einwurf registriert und als Video zu einem Offiziellen auf der Tribüne sendet, der wiederum im Notfall den Schiedsrichter auf dem Platz informieren kann?

Sehr genau muss man sich überlegen, wie diese Hilfsmittel so eingesetzt werden können, dass sie keine oder nur möglichst geringe Auswirkungen auf den Spielfluss haben. Fußball ist anders als Tennis oder American Football nun mal keine Sportart, in der es regelbedingt ganz automatisch zu vielen Pausen kommt, der generelle Videobeweis somit viel einfacher einsetzbar ist.

Man stelle sich nur mal vor, Klose habe gegen Florenz nicht im Abseits gestanden, der Schiedsrichter aber vorher auf Abseits entschieden und der Gegenspieler also die Abwehrarbeit eingestellt - wie ginge es dann weiter? Auf Tor jedenfalls könnte man schwerlich entscheiden. Ein solches Fehlurteil würde kein Videobeweis der Welt ausbügeln. (Es sei denn, der Schiedsrichter entscheidet ganz grundsätzlich nie mehr auf Abseits ...)

Ähnliches gilt, wenn es zu einem Pressschlag im Mittelfeld kommt, der Ball ins Aus geht, und der Schiedsrichter fälschlicherweise auf Einwurf für Team A entscheidet. Wegen jeder strittigen Einwurf- oder Zweikampf-Entscheidung zu unterbrechen, ist kaum möglich, und bis der vierte Offizielle auf der Tribüne das Video durchgesehen (wie oft schon gab es Situationen, die bei der ersten Durchsicht nicht eindeutig waren?) und das Ergebnis weitergegeben hat, ist auf dem Rasen längst eine andere Situation entstanden, möglicherweise gar ein Tor gefallen. Wie weit kann das Video den Spielverlauf zurückdrehen?

Solche Fragen müssen bedacht und diskutiert werden - und vielleicht kommt man zu dem Schluss, dass es unangebracht wäre, dem technischen Auge die generelle Oberaufsicht über den Platz zu geben. Das hat aber nichts damit zu tun, dass ein Chip im Ball unkompliziert und ab sofort in der Kernfrage des Spiels (Tor oder nicht Tor?) für hundertprozentige Klarheit sorgen würde - und dass das sehr zu begrüßen wäre.

Stattdessen wollen Fifa und IFAB lieber das in der Europa League begonnene Torrichter-Projekt beobachten, bei dem hinter den Torauslinien zwei weitere Assistenten den Haupt-Schiedsrichter unterstützen. Frei nach dem Motto "Zehn Augen irren noch häufiger als sechs".

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