FC Bayern München:Günstige Sozialprognose

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Erst Superparade, dann im Blindflug gepatzt: Manuel Neuers Anteil am 0:2 des FC Bayern beim FC Arsenal ist nicht zu leugnen. Doch Torwart und Team sollten den Dämpfer gut verkraften können.

Von Claudio Catuogno, London

Die beiden Entlastungszeugen standen nur rund einen Meter voneinander entfernt. Der eine trug einen schlanken Schlips zum Anzug, der andere war im schwarz-rosa Trainingsanzug herbeigeschlendert, aber so laufen die Bayern halt in dieser Saison rum. Schwarz-rosa.

Per Mertesacker, der Zeuge mit Schlips, Kapitän des FC Arsenal, verwies in seiner Aussage darauf, dass der Angeklagte im entscheidenden Moment nicht nur schlecht ausgesehen, sondern vor allem schlecht gesehen habe: "Was soll er machen? Da springt einer direkt vor ihm hoch, dann ist er im Blindflug." Mertesacker warb für mildernde Umstände.

Thomas Müller, der Zeuge im Trainingsanzug, Angreifer des FC Bayern, konnte den Tathergang ebenfalls aus eigener Anschauung schildern; Müller war derjenige gewesen, der hochgesprungen war. "Da ist viel los im Strafraum", nahm also auch Müller den Beschuldigten in Schutz, "aber klar: Wenn ein Torwart einen Fehler macht, sieht es immer blöd aus."

Kurz darauf kam der Angeklagte. Das übliche Lausbubengesicht. Der Bayern-Bus hatte im Tiefgaragen-Gewirr des Arsenal-Stadions an der Holloway Road bereits den Motor angelassen, Manuel Neuer, der Torwart, holte trotzdem erst mal tief Luft - und plädierte dann auf "schuldig".

Leugnen bringt ja nichts, wenn alles von Kameras aufgezeichnet wurde. Neuer sagte also nicht, man habe durch ein blödes Ding oder eine unglückliche Aktion verloren, er sagte: "Durch meinen Fehler geraten wir leider in Rückstand." Aber der Bayern-Torwart deutete auch an, dass er für sich eine günstige Sozialprognose sieht: "Ich weiß, wie es passiert ist, und ich weiß, dass ich damit umgehen kann."

Die Gesprächsrunden nach Fußballspielen haben oft den Charakter von Tribunalen. Die Frage, warum das eine Fußballspiel 0:2 verloren geht und das andere 5:1 gewonnen wird, ist ja oft so vielschichtig, dass es im Zuge der Komplexitätsreduktion das Einfachste ist, einen Schuldigen zu identifizieren. Und Neuers Anteil an dieser 0:2 (0:0)-Niederlage beim FC Arsenal am dritten Vorrundenspieltag der Champions League bestand nun mal eindeutig darin, dass er in der 77. Minute in einem Getümmel am Ball vorbeigehopst war. Klarer Verstoß gegen Paragraf eins des Bundes-Torhüter-Gesetzes (BTorhG): "Wenn der Torwart rausgeht, muss er ihn haben."

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(Foto: Tobias Hase/dpa)

Doppeltes Unglück beim 1:0: Manuel Neuer (in Hellblau) springt am Ball vorbei, der bei Olivier Giroud - dem einzigen Londoner in der Nähe - landet.

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(Foto: Paul Gilham/Getty Images)

Dabei hatte Manuel Neuer bis dahin gewohnt spektakulär gehalten, etwa den Kopfstoß von Theo Walcott (l.) in der 33. Minute.

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(Foto: Tobias Hase/dpa)

Fassungslosigkeit bei Walcott, Neuers Nationalmannschaftskollege Mesut Özil (r.) dürfte solche Reflexe schon öfters beobachtet haben.

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(Foto: Dylan Martinez/Reuters)

Und auch bei Özils Schuss in der Nachspielzeit hat Neuer seine Finger dazwischen - allerdings hinter der Linie: 2:0 für Arsenal.

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(Foto: Paul Gilham/Getty Images)

Manuel Neuer befürchtet keine Spätfolgen seines Irrflugs: "Ich weiß, wie es passiert ist, und ich weiß, dass ich damit umgehen kann."

Die 77. Minute also, eine Freistoßflanke von Santi Cazorla, lange in der Luft. Wenn man sich da als Bundestorhüter fürs Rauslaufen entscheidet, gibt es kein Zurück mehr. Es ist, wie wenn man sich fürs Gasgeben entscheidet, sobald die Ampel auf Gelb springt - und dann kann es eben mal passieren, dass man erst danach realisiert, wie unübersichtlich es auf der Kreuzung plötzlich zugeht. Müller springt zum Kopfball, Laurent Koscielny springt mit, irgendwo springen auch Kimmich, Alaba, jetzt bloß keinen Auffahrunfall verursachen - wo ist der Ball? Schon ist er Neuer durchgeflutscht, direkt auf den Kopf von Olivier Giroud und von dort ins Bayern-Tor.

"Wenn ich auf der Linie bleibe, passiert nichts", sagte Manuel Neuer. Andererseits: Hätte er den Ball erwischt - wäre dann nicht Herauslaufen genau die richtige Entscheidung gewesen?

Trainer Pep Guardiola hat Neuer nachher keine Vorhaltungen gemacht: "Es sind die Spieler, die auf dem Platz die Entscheidungen treffen müssen, ich werde nie einen Spieler für eine Entscheidung kritisieren." Zeuge Müller sagte: "Kein Vorwurf an Manu." Und Karl-Heinz Rummenigge, als Vorstandsboss der oberste Rechtspfleger der Bayern, nutzte die Angelegenheit für ein bisschen Pathos: "Wir sind sehr glücklich, dass Manuel bei uns im Tor steht."

Am Samstag gegen den 1. FC Köln können die Bayern ihr 1000. Bundesliga-Spiel gewinnen

Nötig wäre das im Sinne einer fairen Urteilsfindung natürlich nicht gewesen. Torwartkritik verbat sich geradezu, schließlich hatte Neuer in der ersten Halbzeit eine dieser Paraden gezeigt, die in einem weltlichen BTorhG gar nicht geregelt werden können: Wie der 29-Jährige noch seine Hand an einen Kopfball von Theo Walcott brachte (33.), das müsste vielmehr an anderer Stelle als Wunder beantragt werden.

Warum geht so ein Spiel verloren, nachdem die Bayern zuvor alle neun Partien in der Liga (Startrekord!) sowie sämtliche in Pokal und Champions League gewonnen haben? Was lief diesmal schief? Guardiola sagte: "Nichts." Manchmal "schießt du Tore, manchmal schießt du keine Tore", das sei nun mal "the mystery of football".

Ein Mysterium also? Nun, ein paar Gründe gab es natürlich schon. Insbesondere war da eben der Gegner, der in der Premier League einen Lauf hat und auf der europäischen Bühne unbedingt gewinnen musste. Da war der Arsenal-Trainer Arsène Wenger, der antizipiert hatte, dass es schwer werden würde, "den Bayern den Ball wegzunehmen", und der deshalb Mesut Özil etwas weiter zurück beorderte, die Reihen schloss und den Flügelspielern der Bayern nicht nur Außenverteidiger, sondern auch nach außen rückende Mittelfeldspieler auf die Füße stellte. Chancen hatten die Bayern trotzdem fast ein Dutzend. "Aber wir sind wohl etwas schludrig damit umgegangen", fand Jérôme Boateng.

Und dennoch: Als Guardiola sagte, man sei "in big trouble", da bezog sich das nur auf die diversen Verletzten. Nach drei von sechs Gruppenspielen liegen die Bayern in ihrer Gruppe weiter auf Rang eins. Entsprechend gelassen konnte Rummenigge später im Luxushotel "The Landmark" seinen Toast an die Spieler aussprechen: "Ich empfehle euch, einfach weiterzumachen." Am Samstag gegen den 1. FC Köln würden die Bayern dann wohl ihr 1000. Bundesligaspiel gewinnen. Der nächste Rekord. Und niemand würde bezweifeln, dass das im Einklang mit dem Bundes-Rekordmeister-Gesetz (BRekMG) geschähe.

© SZ vom 22.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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