Europa League:Frankfurts nächster Feiertag

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Das 2:1 von Daichi Kamada ließ die Frankfurt-Fans im Londoner Stadion endgültig ausrasten. (Foto: Paul Terry/dpa)

3000 Fans entfachen in London einen Lärm, als wären sie 30 000 - und bejubeln den Sieg im Halbfinal-Hinspiel gegen West Ham. Das Finale der Europa League ist plötzlich ganz nah.

Von Sven Haist, London

Oliver Glasner lief mit seiner Mannschaft auf die Fans zu, aber anders als seine Spieler blieb der Trainer von Eintracht Frankfurt kurz vor dem weiß-schwarzen Block stehen. Mit verschränkten Armen und mit etwas Abstand verfolgte Glasner die Feierlichkeiten zwischen seinem Te­am und den Anhängern. Wie in einem Kinosaal mit riesiger Leinwand blickte er beeindruckt auf die steil aufsteigende Stadiontribüne, auf der 3000 Eintracht-Fans einen Lärm produzierten, als wären sie 30 000 wie kürzlich in Barcelona.

Die nicht enden wollenden Jubelrituale - Frankfurts Spieler warfen ihre Trikots in die Menge und umarmten die Zuschauer in den unteren Reihen - dürften Glasner vor Augen geführt haben, was für ein Coup ihm geglückt war. Erstmals seit 1980, seit einer halben Ewigkeit, könnte die Eintracht ein Europapokal-Finale erreichen - durch ein vorzügliches 2:1 (1:1) bei West Ham United im Halbfinal-Hinspiel der Europa League.

Es ging sehr herzlich zu zwischen den Frankfurter Fans und Spielern am Donnerstagabend. Hier wird Ansgar Knauff (vorne links) von einem Anhänger geherzt. (Foto: Arne Dedert/dpa)

Allerdings ist es für die Spieler wie den Tr­ai­ner, die es alle international noch nie so weit geschafft haben, wohl empfehlenswert, vor dem Heim-Rückspiel am nächsten Donnerstag gar nicht groß darüber nachzudenken. Die historische Dimension kann einen ja ähnlich erschlagen wie die Wucht dieses Vereins - wobei sich die Profiabteilung von der Power der Anhängerschaft gerade eher zu Höchstleistungen antreiben lässt. In Frankfurt gebe es "nur noch die Europa League als Thema", hat Glasner zuletzt bemerkt. Dies könnte "ein nicht messbarer Effekt" werden, der "ein paar Extrapunkte" herauskitzele.

Frankfurt ist in allen elf Pflichtspielen dieser Europa-League-Runde ungeschlagen

Anders als bei den Frankfur­ter DFB-Pokalsieger 2018 und Europa-League Halbfinalisten 2019, die in Kevin-Prince Boateng, Ante Rebic oder Luka Jovic über schillernde Persönlichkeiten verfügten, basiert der aktuelle Erfolg insbesondere auf einer Teamleistung - beziehungsweise auf einer Vereinsleistung, angesichts der Sy­mbi­ose zwischen Spielern und Fans. Dass all seine Profis einen Beitrag fürs Kollektiv leisten, ist das vermutlich größte Kompliment für den Trainer Glasner.

Aus Respekt vor den eingespielten Abläufen der Frankfurter richtete West Hams Trainer David Moyes seine Formation mit der Umstellung auf eine Dreierkette in der Abwehr nach der Eintracht aus. Doch der Plan der Londoner, die Anordnung des Gegners zu spiegeln, um in vielen Zweikämpfen die vermeintlich individuelle (und körperliche) Überlegenheit auszunutzen, funktionierte nur beim zwischenzeitlichen 1:1 durch Michail Antonio (21. Minute). Stattdessen nutzte Frankfurts Ansgar Knauff schon nach 51 Sekunden einen Stellungsfehler des als Linksaußen wenig erprobten Pablo Fornals zur Führung. Knauff, bis zu seiner Winterleihe bei Borussia Dortmund hauptsächlich in der dritten Liga eingesetzt, gilt als eine der Entdeckungen der Rückrunde.

Weil die Eintracht zuvor auf seiner Position in der ersten Saisonhälfte keine einzige Torbeteiligung vorzuweisen hatte, holte ihn Sportvorstand Markus Krösche vom BVB - ein Volltreffer. Aufgrund seines Tempos, seiner Härte und Agilität besitzt die Eintracht nun in Knauff ein Pendant zu Filip Kostic auf links, einem der begehrtesten Kaderspieler. Gleichzeitig verdichtete Glasner die Defensive, mit besonderem Augenmerk auf Konterabsicherung.

Auch gegen West Ham war zu erkennen, dass die Abstände zwischen den Mannschaftsteilen eng waren. Der Vortrag seiner Spieler, sagte Glasner, sei "einfach fantastisch" gewesen - insbesondere der Siegtreffer durch Daichi Kamada (54.), dem ein geniales Zuspiel von Jesper Lindström vorausging. Damit ist Frankfurt in allen elf Pflichtspielen dieser Europa-League-Runde nach wie vor ungeschlagen.

Nur noch eine Prüfung wartet vor dem herbeigesehnten Endspiel

Im Vergleich zum Tabellensiebten der Premier League, dem die Erwartungshaltung der knapp 60 000 Heimfans im ausverkauften London Stadium spürbar zusetzte, schien Frankfurt von der Europapokal-Erfahrung der Vorsaisons zu profitieren. Speziell die Achse um Torwart Trapp, Zentralverteidiger Hinteregger und Abräumer Rode, die bereits vor drei Jahren beim schmerzhaften Halbfinal-Aus im Elfmeterschießen gegen den FC Chelsea mitwirkte, strahlte Souveränität und Reife aus. Über dieses Selbstverständnis verfügte das in der Abwehrzentrale verletzungsgeplagte West Ham nicht.

Schütze des Siegtreffers: Frankfurts Daichi Kamada. (Foto: Kirsty Wigglesworth/dpa)

Die Basis dafür legte Glasner, 47, mit geschickter Trainingssteuerung und klarem Fokus auf den internationalen Wettbewerb, obwohl der Österreicher mit dieser Herausforderung in seiner Trainerkarriere noch nie konfrontiert wurde. Das Team konnte sich die Kräfte einteilen - trotz zuletzt sieben Begegnungen in 22 Tagen. Das ist nicht zuletzt auch ein Verdienst von Athletikchef Andreas Beck, Team­arzt Florian Pfab und deren Mitarbeitern.

Vor dem Endspiel wartet auf Frankfurt jetzt nur noch eine Prüfung. Anders als in den Partien zuvor in der Europa League trägt die Eintracht dann zum ersten Mal die Bürde, etwas verlieren zu können. Aber darüber sollte am besten niemand nachdenken.

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