Er hatte so eine Ahnung, nur geredet hat er nicht darüber, nicht öffentlich, höchstens Mal in vertrautem Kreis: Dass er vermutlich von einem Doper um olympisches Gold gebracht wurde. Australiens Geher-Champion Jared Tallent war nicht wirklich überrascht, als ihn die Nachricht vom Fall des Russen Sergei Kirdjapkin erreichte. Um 54 Sekunden, nach 50 Kilometern, hatte der ihn im Duell um den Sieg bei den Spielen 2012 in London abgehängt. "Der internationalen Geher-Gemeinde waren die Russen seit Jahren verdächtig", sagte Tallent. Schon bei der WM 2011 war ihm ein Betrüger aus dem russischen Geher-Zentrum Saransk im Weg zu Silber: der jetzt ebenfalls gesperrte Sergei Bakulin.
Die Richtung gab wohl Putin vor
Das hat die bisher größte Medaillenumverteilung in der Geschichte des Weltverbands der Leichtathleten (IAAF) zur Folge. Von den Podesten Olympias und der WM gestoßen werden vorerst fünf russische Elitegeher und die am vergangenen Wochenende gesperrten Julia Saripowa, Hindernis-Olympiasiegerin 2012, und Tatjana Chernowa, die Siebenkampf- Dritte von London. Weitere Medaillenwechsel nicht ausgeschlossen: Wenn die im Dezember von der ARD-Dokumentation "Geheimsache Doping" aufgedeckte Affäre um planmäßiges Doping und Vertuschung desselben durch Korruption im Putin-Land erst einmal aufgearbeitet ist.
Die jüngsten sieben Fälle kommen Leichtathletik-Chef Valentin Balachnitschew und Sportminister Witali Mutko in Anbetracht globaler Kritik an den Russen paradoxerweise gelegen. So tönte der im Zwielicht und vor seinem Rücktritt stehende Balachnitschew im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Tass, es gebe in naher Zukunft keine Dopingskandale mehr mit russischen Athleten. Und Mutko führte die überführten Sportler als Beleg an für die Seriosität des Kontrollsystems seines Landes. Russland gehöre "weltweit in die Top fünf des Antidopingkampfs". Eine zynische Ansage.
Die Nachrichtenschwemme aus Dopeland hat vielmehr eine Frage aufgeworfen: Warum bemüht sich Russlands Sport, voran die Leichtathletik, so intensiv um die Spitzenposition in der Disziplin Doping? Im SZ-Interview deutete der russische Kronzeuge der ARD-Doku, Witali Stepanow, an, "ganz oben" habe man besonderes Interesse zu zeigen, "dass Russland besser ist als andere Länder". Mit der Machtübernahme Putins, so Stepanow, sollte Russland wieder zur Super-Sportmacht aufsteigen. Nach der Auflösung der UdSSR war Russland (Obama: "Regionalmacht") politisch und wirtschaftlich in die Defensive geraten. Um die zu überwinden, setzte Sportfreund Putin auch auf frische Muskelkraft des Sports.
Entschied sich der Sportapparat bei der Wahl der Mittel auch für jene aus Sowjetzeiten, als sich die UdSSR auf ein Duell um die fiesesten Dopingmethoden mit der DDR einließ, um den Westen abzuhängen? Immerhin erkannte der Schwede Arne Ljungqvist, 83, Chef der IOC-Medizinkommission, die Schwierigkeit, "mit einer Kultur zurechtzukommen, die in Teilen aus früheren Zeiten existiert". Im Übrigen hat Witali Stepanows Gattin Julia, eine bekehrte Ex-Doperin und wichtigste Faktenlieferantin in Hajo Seppelts ARD-Film, den Konsum von Dopingmitteln im russischen Sport im FAZ-Gespräch so zu begründen versucht: "In Russland sagt man: Gesetze sind dazu da, gebrochen zu werden. Es gibt Regeln, und es gibt das richtige Leben".