England:Darts-WM: Popstars aus der Fabrik

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"Die Weltmeisterschaft bedeutet mir alles": Raymond van Barneveld ist bei der Darts-WM überraschend ins Viertelfinale vorgerückt. (Foto: Action Plus/imago)

Vom Kneipensport zum TV-Hit: Wenn die Darts-Profis die WM austragen, schaut ein Millionenpublikum zu. Warum eigentlich?

Von Johannes Knuth, London/München

Da war er wieder, dieser Moment. Dieses Blitzen in den Augen des Dart-Profis Raymond van Barneveld. 3000 Zuschauer im Alexandra Palace, die sich plötzlich von ihren Sitzen lösten, in gespannter Erwartung. Michael van Gerwen aus den Niederlanden, der große Favorit in diesem Achtelfinale der Darts-WM in London, hatte soeben seine Chance vertan, die Partie wieder auf seine Seite zu ziehen. Und jetzt stand dessen Landsmann van Barneveld tatsächlich auf der Bühne, in seinem Rücken eine Wand aus Lärm und Hitze, in der Hand drei Dartpfeile, 2,37 Meter vor ihm eine Scheibe mit zwei winzigen Feldern, in die er die Pfeile platzieren musste.

Erster Pfeil, Treffer. Zweiter Pfeil, Treffer. Aus, vorbei.

Van Barneveld hüpfte - es sah anmutig aus wie ein Sumoringer beim Hochsprung, aber dem 48-Jährigen war das herzlich egal. Er hatte den 22 Jahre jüngeren Weltranglisten-Ersten aus dem Turnier gedrängt.

Hinter der Bühne geht die Show weiter: 3000 Zuschauer singen und grölen dort

Seit dem 17. Dezember tragen sie in London die 23. Darts-WM des Verbandes PDC aus, am 3. Januar küren sie ihren Weltmeister. Was einst als Kneipensport belächelt wurde, gehört inzwischen zum Bilderteppich des Kommerzsports während der Feiertage, fast so selbstverständlich wie das Neujahrsspringen oder am zweiten Weihnachtstag der Boxing Day der Fußballer in der Premier League.

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Beim Achtelfinale zwischen van Barneveld und van Gerwen sahen bei Sport1 im Schnitt 540 000 Zuschauer zu, 1,06 Millionen in der Spitze, so viele hatte der Spartensender vor Silvester noch nie erreicht. Während des Finales im Januar 2015 waren es zeitweise 1,36 Millionen; fantastische Werte für den Sender. Weil Silvester und Weihnachten eben Dartzeit sind, auch und vor allem in Deutschland.

Warum eigentlich?

Für Antworten landet man bei den allabendlich rund 3000 Zuschauern im Alexandra Palace, bei den Sportlern, die ein Regisseur wahllos aus dem Leben gegriffen und auf eine Bühne gestellt zu haben scheint. Und man landet bei Elmar Paulke, der die WM für Sport1 kommentiert.

Paulkes erster Arbeitstag als deutsche Stimme des Dartsports war der 19. Dezember 2005, er war ziemlich nervös, "es war ein Versuch", erinnert er sich. Sport1 hatte sich gerade ein Rechtepaket beschafft, in dem Billard, Snooker und Darts steckten, irgendjemand musste halt auch die Darts-Turniere begleiten, also fragten sie Paulke. Einige Zuschauer hatten "leichte Berührungsängste", sagt Paulke, "vor den komischen, dicken Männern", die in bunten, verschwitzen Hemden auf eine Scheibe warfen. Andere blieben hängen. Schon damals waren es 200 000 bis 300 000. Heute sind es fast fünf Mal so viele an einem Tag.

Paulke betreibt eine Facebook-Seite, auf der er Videos einstellt, mit Zuschauern diskutiert oder einfach fragt, was denn das beste Mittel gegen Heiserkeit sei (Antwort: Ingwer-Tee). Mehr als 87 000 klicken auf "Gefällt mir". Paulke sagt: "Darts ist nicht nur ein Spiel. Der Mix macht die Faszination aus." 3000 Zuschauer stehen vor der Bühne, singen, grölen, halten Plakate mit nicht immer jugendfreien Botschaften in die Kameras, "die Leute sind Teil der Show", sagt Paulke.

"Und der Verband arbeitet ganz bewusst mit Kontrasten." Da ist die Westhall im Alexandra Palace, ein stickiger, schummriger Saal aus dem 19. Jahrhundert, in dem sich junge Menschen ein traditionsreiches Spiel anschauen. Da ist das laute, flirrende Publikum, davor Sportler in einem Konzentrationswettbewerb. Fast nirgendwo schaut man den Athleten so nahe ins Gesicht, auf zitternde Finger, auf die Schweißperlen. Wintersportler setzen sich größeren Kräften aus, aber man spürt diesen Kampf mit den Elementen selten, nicht vor dem Fernseher.

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Und jeder der Dart-Profis bringt seine eigene Geschichte mit. Van Gerwen, den sie früher auf dem Schulhof wegen seines Gewichts mobbten, der jeden Samstag in die Kneipe ging und dort das Spiel kennenlernte. Oder natürlich Phil Taylor, ein Arbeiterkind, mittlerweile 16-maliger Weltmeister und Multimillionär. "Das sind Menschen aus der Arbeiterklasse, die Popstars sind", sagt Paulke - noch so ein Kontrast.

Taylor ist der Prototyp dieses Spannungsfelds, ein Mann, der den Sport groß machte und durch den Sport groß wurde. Der bis zu seinem 28. Lebensjahr in einer Fabrik arbeitete, ehe er feststellte, dass er besser Pfeile warf als andere. Der in seinen ersten Jahren täglich sieben, acht Stunden trainierte, abends Kamillentee trank und früh ins Bett ging, während die anderen an der Bar standen. Der nur so seinen Sport auf ein neues Niveau heben konnte. Taylor arbeitet Darts, er hat keinen so gefühlvollen Wurf wie van Barneveld. Aber er hat seine Wurfbewegung millionenfach eingeübt.

Der Altmeister wehrt sich gegen den Angriff der Jungen, die er einst inspirierte

Taylor war Anker der ersten Übertragungen in Deutschland, einer, den sie jedes Jahr wieder erkannten. Österreicher und Deutsche sprangen eine Schanze hinunter, Engländer traten gegen einen Ball, Phil "The Power" Taylor warf Pfeile auf ein Brett, war am Ende Weltmeister und um rund 250 000 Pfund reicher. Taylor ist mittlerweile 55, er sieht nicht mehr ganz so gut, zuletzt hatte er immer wieder gewonnen, weil die Jüngeren im Angesicht des Altmeisters nervös wurden und sich zu Fehlern animieren ließen. Ein Oldie wehrt sich gegen den Sturm und Drang der Jugend - so gut, so extrem wie beim Darts erzählt diese Geschichte keine andere Sportart. Diesmal verlor er diesen Kampf, in der Nacht zum Donnerstag unterlag er dem Niederländer Jelle Klaasen im Achtelfinale mit 3:4.

"Die Deutschen lieben Fußball", sagt Paulke, "und Helden." Und inzwischen auch Popstars, die für fast jede andere Disziplin zu rund oder zu alt wären.

© SZ vom 31.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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