England bei der U-21-EM:Rebellion gegen den Fluch der Milliarden

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Weckt große Hoffnungen auf der Insel: Stürmer Harry Kane (Foto: REUTERS)
  • Englands Fußball soll endlich wieder Talente hervorbringen. Bei der U-21-EM hoffen die Männer von der Insel auf Erfolge.
  • Dass es mit der Ausbildung junger Spieler zuletzt nicht lief, liegt an der Entwicklung der englischen Liga.
  • U-21-Coach Southgate will das ändern.

Von Matthias Schmid, Prag

Es soll ja trotz aller Akademisierung des Fußballs noch immer Trainer geben, die Zeitungsauschnitte oder Sprüche von gegnerischen Spielern als Motivationshilfe an die Kabinenwand heften. Auch Gareth Southgate, dem Chefcoach der englischen U-21, gefalle diese folkloristische Kulturtechnik, heißt es aus England. Wenn das stimmt, dann lieferte ihm Emre Can nun neue Gründe fürs Zettelchen-Aufhängen.

Der deutsche U-21-Spieler vom FC Liverpool hatte sich vor der Europameisterschaft in Tschechien despektierlich über seine englischen Altersgenossen geäußert. "Wenn die gegen uns spielen, tun sie mir jetzt schon leid", sagte der Mittelfeldspieler, der gerade seine erste Saison in der Premier League als Stammspieler beendet hat.

Es könnte durchaus sein, dass Can dieser Satz noch leidtut. Denn die englische Mannschaft macht gerade einen Stilwandel durch, vielleicht auch viel mehr als das, denn der frühere Nationalspieler Southgate strebt nichts anderes an als eine Revolution. Er will den englischen Verband vom Staub des "Kick and rush" befreien und endlich in die Moderne. "Wenn wir im Erwachsenenfußball wieder erfolgreich sein wollen, müssen wir in den Jugendmannschaften Spiele und Ballbesitz bestimmen", sagt er.

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"Wir waren alle ziemlich erleichtert": Das ambitionierte U-21-Team des DFB findet rechtzeitig seine Qualitäten und besiegt Dänemark im zweiten Gruppenspiel klar. Nach dem Spiel zeigt sich, wie sehr die Mannschaft verunsichert war.

Von Matthias Schmid

Alle taktischen Impulse der vergangenen Jahre gingen vom Kontinent aus: das Gegenpressing, die falsche Neun, das Umschaltspiel oder sein Pendant, der Ballbesitzfußball. Es fehlte auf der Insel lange Zeit an Ideen, Innovationen. Die Abermillionen, die russische Oligarchen oder arabische Scheichs in die Liga kippen, kamen nur den Bankkonten vieler ausländischer Profis zugute. Gedeihliche Nachwuchsförderung? Eher nicht. Es ist der Fluch der Milliarden, die den englischen Fußball lähmt.

Eine Ahnung davon, wie der neue Inselkick um Stürmer Harry Kane nun aussehen könnte, bekamen die Zuschauer am Sonntagabend in Olmütz beim Gruppenspiel gegen Schweden. Mit schnellen direkten Pässen, auch über die dribbelstarken Außenstürmer, versuchten sich die Engländer in den Strafraum zu kombinieren.

Es mag noch nicht alles klappen, aber mit dem Siegtor des eingewechselten Jesse Lingard in der 83. Minute hat sich England zumindest die Chance erhalten, mit einem Sieg im abschließenden Gruppenspiel gegen Italien am nächsten Mittwoch noch das Halbfinale erreichen zu können. "Unser Spieltempo hätte in manchen Situationen noch ein bisschen schneller sein können", sagte Southgate hinterher, "aber meine jungen Spieler mussten auch mit der Last klarkommen, das Spiel unbedingt gewinnen zu müssen."

Wie dramatisch die Debatten um die Zukunftsfähigkeit des Fußball-Mutterlands sein müssen, ist auch daran zu erkennen, dass zuletzt Kevin Keegan und vier weitere ehemalige englische Nationaltrainer mit einem offenen Brief an die Öffentlichkeit gingen. Sie wollten die Reformpläne des Verbandschefs Greg Dyke unterstützen, der einheimische Profis in der Premier League schützen will.

"Wir appellieren dringend, dass sich alle Beteiligten so schnell wie möglich zu Dykes Vorschlägen bekennen. Sonst wird riskiert, dass England noch weiter hinter die führenden Fußball-Nationen zurückfällt und es noch viel schwieriger wird, unsere lange Wartezeit auf den nächsten WM-Titel zu beenden", schrieben Keegan sowie Graham Taylor, Glenn Hoddle, Sven-Göran Eriksson und Steve McClaren.

Der Boss des Nationalverbandes FA will von 2016 an den vorgeschriebenen Anteil einheimischer Nachwuchsspieler in den Vereinskadern von derzeit acht in vier Schritten auf zwölf erhöhen. Laut statistischer Erhebungen hätten englische Kicker in den vergangenen Spielzeiten nur etwa 30 Prozent der möglichen Spielminuten absolviert, vor 20 Jahren hatte der Wert noch bei mehr als 70 Prozent gelegen.

"Diese Entwicklung darf nicht weitergehen", mahnten die Trainer: "Unsere jungen Spieler bekommen bei den Vereinen vieles geboten, nur eines nicht: Spielpraxis." So kamen beispielsweise die eingesetzten Spieler der U-21-Mannschaft, die Anfang April die deutsche Mannschaft in einem Testspiel 3:2 besiegten, auf 389 Spiele in der Premier League, während das Team von Horst Hrubesch in der Addition 987 Erstligaeinstätze absolvierte.

Die bestehenden Strukturen in der deutschen Nachwuchsförderung imponieren Southgate. Er will deshalb seinen Spielern auch eine Siegermentalität einimpfen. "Wir müssen lernen, was nötig ist, um Turniere auch zu gewinnen." Der letzte EM-Sieg einer englischen U-21-Nationalmannschaft liegt mehr als 30 Jahre lange zurück, 1984 gewannen sie den letzten von zwei Titeln. Vor sechs Jahren verloren sie das Endspiel gegen die deutsche Mannschaft. Southgate hätte nichts dagegen, im Halbfinale oder Endspiel wieder auf das Vorbild zu treffen.

Die Aussagen von Emre Can nimmt er mit Humor. "Er ist ein sehr selbstbewusster Spieler, der schon vorher weiß, wie ein Spiel ausgeht", sagt Southgate. Dass der englische Trainer ein erstaunliches Maß an Selbstironie aufweist, zeigt ein Werbespot im englischen Fernsehen. Bei der 5:6-Niederlage im Elfmeterschießen bei der EM 1996 gegen Deutschland hatte er als Einziger verschossen.

In dem Clip rennt er beim Verlassen eines Fastfood-Restaurants gegen eine Barriere im Raum. Kommentar: "Oh, diesmal hat er sogar den Pfosten getroffen." Wenn sich seine Lockerheit auf seine Spieler überträgt, könnten die Engländer bei der EM weit kommen. Weiter als Emre Can vielleicht lieb ist.

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