Eiskunstlauf-WM:Feuerwerk der Sprünge

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Seit 2018 ungeschlagen: Nathan Chen, der König der Sprünge. (Foto: Jessica Gow/TT/Reuters)

Der US-Amerikaner Nathan Chen wird zum dritten Mal Weltmeister im Eiskunstlauf - weil er in Stockholm zeigt, dass man mit Eisen an den Füßen schweben kann.

Von Barbara Klimke

Zahlende Zuschauer waren ausgesperrt von diesem Titelkampf in Stockholm. Aber kurz vor dem Ende der Männer-Konkurrenz fingen die Fernsehkameras dann doch das Bild ein, das man vom Eiskunstlauf aus den Vor-Seuchenjahren kennt: Standing Ovations auf der weiten Tribüne. Alle, denen der Zutritt erlaubt war zur Globe Arena, ein Fachpublikum aus Paarläufern, Solistinnen, Eistänzern, Trainern, Betreuern und Preisrichtern, erhoben sich, um Nathan Chen zu applaudieren: einem Mann, der mit Eisen an den Füßen schweben kann.

Zum dritten Mal ist Chen, 21, aus Kalifornien Weltmeister geworden. Seit seinem fünften Platz bei den Winterspielen in Pyeongchang 2018 ist er nun in zehn internationalen Wettbewerben ungeschlagen. Am Samstag hat er auch Japans Kufenidol, den zweimaligen Olympiasieger Yuzuru Hanyu, 26, hinter sich gelassen mit einem Programm, das die Eislaufwelt vom Hocker riss, das der kühl abwägende Chen aber nicht einmal als sein bestes bezeichnen wollte. Immerhin ging Chen so weit einzuräumen, dass er die Goldkür "in Erinnerung behalten" werde.

Es war ein Feuerwerk der Sprünge. Fünf Vierfache, Lutz, Salchow, Flip und zwei Toeloops, setzte Chen aufs Eis, drei davon präsentierte er in einer Kombination. Einen Dreifach-Axel band er in seine durchweg harmonische Kür ebenfalls noch ein. Jeder Sprung war makellos, einer schöner als der andere. "Der beste Nathan Chen, den es je gegeben hat", wie der frühere amerikanische Meister Johnny Weir mit Gespür für Superlative als Kommentator für den Sender NBC befand.

Womöglich hat das Seuchenjahr ohne Wettkämpfe zur Stabilisierung der Sprünge beigetragen

Dass Chen den Einsatz erhöhen musste in der Kür, diesem Vabanquespiel auf Kufen, war am Samstag klar. Er ging nur als Drittplatzierter ins Finale, weil er zuvor in dem Kurzprogramm bei seinem Paradesprung, dem Vierfach-Lutz, gestrauchelt war. Chen, der an der Universität von Yale Statistik und Datenwissenschaften studiert, gilt als cooler Überflieger der Szene, ein Präzisionstechniker der Lüfte, der seit Jahren die Standards für die Rotationszahlen der Kollegen vorgibt. Er hatte tatsächlich schon einmal mehr Vierfachsprünge in einer Kür untergebracht: 2018 bei der WM in Mailand hämmerte er sie eher fantasielos auf die glatte Fläche, als trage er einen Akku in den Kufen. Nun war von einem Kraftakt nichts mehr zu sehen. Er tupfte seine Höchstschwierigkeiten, ließ sie fast nebenbei in den Lauf einfließen, flog förmlich übers Eis und wurde mit einer Wertung von 320,88 Punkten belohnt.

Diesmal nur Dritter: Olympiasieger Yuzuru Hanyu muss sich hinter Nathan Chen und seinem 17-jährigen Landsmann Yuma Kagiyama (von rechts) einreihen. (Foto: Maxim Thore/Bildbyran/Imago)

Yuzuru Hanyu, der als Letzter die Arena betrat, ließ sich beeindrucken. Er war in der Kurzkür in einem so funkensprühenden Spektakel zu Robbie Williams' "Let Me Entertain You" übers Eis getanzt, dass sich Kommentatoren weltweit inspiriert sahen, diese Interpretation spontan zum besten Dreiminutenproramm der Geschichte zu küren: Hanyu hatte sogar den Dreifach-Axel wie einen Paukenschlag auf eine Note der Musik gesetzt. Am Samstag, im Finale, missglückten ihm dann gleich die ersten beiden Vierfachsprünge, Rittberger und Salchow. Er touchierte mit der Hand das Eis und wusste schon zum Ende seines Programms zur Musik "Ten to chi to" aus dem Film "Heaven and Earth", dass er dem Boden sehr viel näher als dem Himmel war. Mit 289,18 Punkten fiel er vom ersten auf den dritten Platz zurück, noch überholt von dem erst 17 Jahre alten Yuma Kagiyama, der dem Idol gleich bei der WM-Premiere mit 291,77 Punkten die Silbermedaille entriss.

Faszinierend an dieser WM war, wie hochklassig sich die Männerkonkurrenz fast durchweg gestaltete: Fast ein Dutzend Athleten hinter den Medaillengewinnern brillierte technisch und künstlerisch, angeführt vom quirligen Olympiazweiten Shoma Uno aus Japan und Michail Koljada aus dem russischen Team. Noch vor wenigen Jahren bestand Anlass zur Annahme, dass aus dem Kunstlauf ein seelenloser Sprunglauf werden könnte, weil sich notwendigerweise alle Kraft und Energie auf Anlaufbogen, Absprung, Rotation und Landung konzentrierten. Jeder versuchte, möglichst viele Vierfache ins Programm zu pressen, um die Punktzahl zu erhöhen, und so ähnelten die Championate eher Sturzfestivals mit Musik. Der internationale Verband erwog zwischenzeitlich sogar, die Zahl der Rotationen in den Programmen zu begrenzen.

Inzwischen ist die Technik bei vielen Athleten ausgereift. Und womöglich hat auch das Seuchenjahr ohne Wettkämpfe, das den Eiskunstläufern mehr Ruhe und Erholung bot, zur Stabilisierung der Sprünge beigetragen. Chen nahm ein Freisemester in Yale, um sich auf das Training zu konzentrieren. Hanyu arbeitete allein in Japan, weil eine Reise zu seinem kanadischen Trainer Brian Orser unmöglich war.

Was nicht heißt, dass es nach dieser Eis-Gala von Stockholm nicht bald schon wieder wild werden könnte auf dem Eis. "Es ist schwer vorherzusagen, was die Zukunft bringt, viele Dinge ändern sich schnell in einer Sportart", sagte Chen. Der geschlagene Yuzuru Hanyu hat bereits erklärt, dass er gedenke, demnächst den vierfachen Axel zu präsentieren. Vierfach-Axel! Das ist ein Sprung mit viereinhalb Umdrehungen. So etwas hat mit Eisen an den Füßen noch nie ein Mensch geschafft.

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