Eishockey-WM:Der Zauber aus der Mülltonne

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Ein dreckiges Tor und ein frecher Penalty - die Deutschen kämpfen sich ins Viertelfinale der Eishockey-WM und sagen über den nächsten Gegner Kanada: "Man kann jeden schlagen."

Von Johannes Schnitzler, Köln

Man darf sich die Familie Draisaitl als Einheit vorstellen, in der man füreinander da ist und nicht an alten Wunden kratzt. Als Sohn Leon sich neulich auf den weiten Weg von Kanada, wo er in den nächsten Jahren als Eishockey-Profi noch die eine oder andere Million verdienen dürfte, nach Deutschland machte, wo gerade die 81. Weltmeisterschaft in dieser Disziplin ausgetragen wird, saß Vater Peter neben ihm im Flieger. Mutter Sandra holte die beiden in Frankfurt ab, von Schwester Kim gab es am Flughafen eine herzliche Umarmung. Noch am selben Abend spielte Draisaitl für Deutschland gegen Italien (4:1). Am Dienstag gewannen die Deutschen dann gegen Lettland, 4:3 nach Penaltyschießen, und stehen nun am Donnerstag (20.15 Uhr) im Viertelfinale gegen Kanada. Als einer der Schützen trat Leon Draisaitl an. Draisaitl? Penalty? Kanada?

Natürlich kennt Leon Draisaitl die Geschichte, auch wenn er damals noch gar nicht geboren war. Olympische Winterspiele 1992 in Albertville. Viertelfinale Deutschland gegen Kanada. 3:3. Verlängerung. Erstmals in der olympischen Geschichte wird ein Eishockeyspiel im Penaltyschießen entschieden. Eric Lindros legt vor. Ein gewisser Peter Draisaitl, Leons Vater, muss treffen. Und er bezwingt auch den Torhüter Sean Burke. Aber der Puck bleibt auf der Linie liegen. Aus. "Ganz witzig", sagt der Junior. "Nur nicht für ihn." Ob er mit seinem Vater darüber gesprochen habe? "Ich glaub', der hat da nicht so viel Bock, drüber zu reden."

Mit der Vorhand angetäuscht, mit der Rückhand verwandelt, zum Jubeln abgedreht: Frederik Tiffels überwindet auf elegante Weise den lettischen Torwart Elvis Merzlikins. (Foto: Martin Rose/Getty)

Dienstag. Eishockey-WM in Köln, Finale der Gruppe A, 3:3 zwischen Deutschland und Lettland. Verlängerung. Penaltyschießen. Draisaitl läuft an. "Man muss den Torwart lesen", sagt er. Irgendetwas muss er überlesen haben. Draisaitl vergibt. Aber da kommt ja noch Frederik Tiffels.

"Wenn so ein Spiel im Penaltyschießen entschieden wird, dann ist das nicht unbedingt fair", sagt Christian Ehrhoff, der Kapitän der deutschen Mannschaft, über dieses 4:3, das ihm "ein paar graue Haare mehr" eingetragen hat. "Aber jetzt sind wir sehr erleichtert. Freddy kriegt heute einen ausgegeben." Freddy oder "Tiffy", wie die Kollegen Tiffels nennen, gebürtiger Kölner wie Draisaitl. Beide sind eng befreundet, ihre Mütter gingen zusammen zur Schule. Der College-Spieler von der Western Michigan University, der Einzige im deutschen Kader ohne Profivertrag, war am Dienstag neben Torhüter Philipp Grubauer der gefeierte Held gegen die Letten.

Die Deutschen hatten bereits 2:0 geführt, die Letten ausgeglichen. Sie waren sogar in Führung gegangen. Was er nach dem 2:3 gedacht habe, als er gerade auf der Strafbank saß? "Na, scheiße", habe er gedacht, antwortete Ehrhoff wahrheitsgemäß. Nach dem 2:3 knapp vier Minuten vor dem Ende "hatten viele ein schlechtes Gefühl", gab Stürmer Felix Schütz zu. Schütz selbst war bei diesem Turnier noch nicht viel gelungen, er hatte, wie er hinterher erzählte, am Morgen noch seinen Schläger in eine Mülltonne in der Kabine gesteckt, ein Ritual in der Hoffnung auf ein "garbage goal", ein dreckiges Tor. 33 Sekunden vor der Schlusssirene stand Schütz dann am zweiten Pfosten und wurstelte die Scheibe zum Ausgleich ins Netz. Der Zauber hatte gewirkt. In der Verlängerung rettete Grubauer das Unentschieden, auch im Eins-gegen-eins kam kein Lette mehr an ihm vorbei, ehe Tiffels den dritten und entscheidenden Versuch verwandelte. Er schob den Puck durch die Schoner von Elvis Merzlikins ins Tor.

"Wir haben seine Entwicklung in der Vorbereitung gesehen", sagte Bundestrainer Marco Sturm über Tiffels. "Er ist ein sehr anständiger, ruhiger Typ. Er macht mehr, als wir von ihm erwartet hätten." Zum Beispiel schießt er vor knapp 19 000 Zuschauern erfolgreich Penaltys. "Man muss solche Momente genießen", riet Sturm. Ob er denn schon begriffen habe, was ihm da gelungen sei, sollte Tiffels am Tag danach schildern. "Erst heute Morgen", sagte er, als er gesehen habe, wie viele Nachrichten er bekommen habe.

So wie den deutschen Kickern nachgesagt wird, sie hätten ein Füßchen fürs Elfmeterschießen, scheinen die deutschen Eishockeyspieler ein Händchen für das Penaltyschießen zu entwickeln. Schon gegen die Slowaken gewannen sie auf diese Weise 3:2, Matchwinner war Dominik Kahun. Wenn wie am Dienstag Kahun, der Spezialist, scheitert, und auch Draisaitl, der Hochbegabte, dann trifft eben Tiffels. Auch die deutschen Fußballer mussten ja erst Uli Hoeneß' Rakete in Belgrad verkraften, ehe sie sich die richtige Mentalität aneigneten.

Torwart Grubauers Penalty-Trick: Nicht nachdenken!

Man dürfe sich im Penaltyschießen keinen großen Kopf machen, sagte NHL-Torhüter Philipp Grubauer. Der 25-Jährige aus Rosenheim hat in Washington den weltweit renommiertesten Experten als Trainingspartner, T. J. Oshie. Der Amerikaner verwandelte bei den Olympischen Spielen 2014 in Sotschi gegen Russland vier seiner sechs Versuche. Er ist gewissermaßen der Peter Draisaitl Amerikas. Bloß dass die USA ihr Spiel damals gewannen.

Vor dem Viertelfinale gegen den Titelverteidiger und Weltranglistenersten Kanada sagt Leon Draisaitl, der sein Geld in Edmonton verdient: "Man weiß nie. Man kann jeden schlagen." Wie das geht, könnte er ja mal zu Hause erfragen. Peter Draisaitl stand 1996 beim einzigen WM-Sieg einer deutschen Mannschaft gegen Kanada auf dem Eis, ein 5:1 in Wien. "Das wusste ich noch gar nicht", sagte Leon Draisaitl am Mittwoch. Manche Dinge sollten in einer Familie niemals unausgesprochen bleiben.

© SZ vom 18.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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