Eishockey:Visionärin in der Männerwelt

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Schon als Vierjährige im Tor: Florence Schelling, heute 31. (Foto: imago/Nordphoto)

Torfrau bei den Männern, dann Genickbruch, mit 31 Jahren nun Sportchefin beim Schweizer Serienmeister SC Bern: Die ungewöhnliche Karriere von Florence Schelling.

Von Marco Keller

Was in Übersee über sie geschrieben wird, hat Florence Schelling noch nicht gesehen. Fürs Lesen bleibt keine Zeit. Toronto Star, Washington Post und Boston Herald haben ausführlich über ihre Ernennung zur Sportchefin beim SC Bern berichtet. Die Fachzeitschrift The Hockey News hofft, dass ihre Verpflichtung die Tore öffnen wird für den Einzug weiterer Managerinnen im Sport, nicht nur im Eishockey: "Die Verantwortlichen in den Vorstandsetagen sollten fortan mehr Frauen als Entscheidungsträger für die großen Jobs in Erwägung ziehen."

Ein Echo habe sie erwartet, sagt Florence Schelling, sie sei die erste Frau in einer solchen Rolle, "und in diesen Wochen fällt ja im Sport die ganze Aktualität weg". Aber dass es so extrem sein würde, hätte sie nicht gedacht, auch wenn ihre Berufung sporthistorische Dimensionen hat. Wenige Frauen vor ihr schafften es, ins operative Geschäft des Männer-Eishockeys einzusteigen, so in Nordamerika die Spielerlegenden Hayley Wickenheiser, 41, und Cammi Granato, 49. Sechs Tage vor Schellings Ernennung in der Schweiz wurde Jenny Silfverstrand, 47, zum CEO der schwedischen Liga befördert; vorher war sie acht Jahre in gleicher Funktion bei Djurgarden Stockholm tätig. Doch alle sind deutlich älter als die 31-jährige Zürcherin und in Ländern tätig, in denen Frauen-Eishockey weit größere gesellschaftliche Bedeutung hat.

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In der Schweiz müssen talentierte Mädchen auch heute noch ins Ausland ziehen, um nicht alle Hoffnung zu verlieren. Das hat auch Florence Schelling erfahren. Sie spielte in den USA, Kanada und Schweden, lernte Sprachen und knüpfte Kontakte, außerdem trieb sie ihr Wirtschaftsstudium voran, das sie 2018 in Schweden mit dem Master abschloss. "Das alles wird mir jetzt helfen", sagt sie. Zielorientiert, lernfähig und lernwillig sei sie schon immer gewesen: "Und wenn ich etwas mache, dann mit hundert Prozent Einsatz. Oder etwas mehr."

Als die Anfrage der Verantwortlichen des SC Bern sie erreichte, wusste sie sofort, dass sie die Herausforderung annehmen wollte: "Wenn ich sehe, was ich alles mitbringe, dachte ich mir: Warum nicht?" Eine Solo-Show ist indes nicht geplant: Beraten wird sie von Christian Marcolli, einem Experten zur Optimierung von Spitzenleistungen, der auch schon mit Roger Federer zusammengearbeitet hat. Auch mit anderen Sportchefs erhofft sie sich regen Austausch, weil sie sich "immer weiterentwickeln" will, wie sie sagt.

Florence Schelling stammt aus einer Sportfamilie, und weil sie zwei Brüder hat, lernte sie schon als Kind früh, sich durchzusetzen. "Ich bewege mich seit meinem vierten Lebensjahr in der Welt der Männer", erzählte sie einmal. "Als ich damals sagte, ich wollte Eishockey spielen, sagte man mir, das sei ein Sport für Buben." Ihre beiden Brüder stellten die kleine Schwester ins Tor, weil sie einen Goalie brauchten. Und das war, wie sich zeigen sollte, eine geschwisterliche Entscheidung von ungeahnter Weitsicht. Mit 13 Jahren wurde sie erstmals ins Nationalteam der Junioren berufen, dann verlieh sie dem Schweizer Frauen-Eishockey über Jahre ein Gesicht und eine Stimme: Ihre Glanzkarriere umfasst elf Weltmeisterschaften, vier Olympische Spiele, 190 Länderspiele. Unbestrittener Höhepunkt ist die Bronzemedaille bei den Winterspielen von Sotschi, die sie fast im Alleingang ermöglichte. Sie galt als weltbeste Torfrau und "Miss 60 Prozent".

Neben dem Nationalteam spielte sie für den EHC Bülach in der ersten Liga der Männer. "Sie war jung, aufstrebend und ehrgeizig, sie wollte den Schritt ins Männer-Eishockey machen", erzählt ihr damaliger Trainer Thierry Paterlini. "Ich war überzeugt, dass sie das packen kann." Florence Schelling verzichtete im Männerteam explizit auf eine Sonderbehandlung - und mit Ausnahme einer eigenen Duschkabine bekam sie die auch nicht. 2014 hütete sie zwei Tage nach dem Bronzemedaillenspiel von Sotschi zum Playoff-Auftakt wieder das Tor der Bülacher Männer, als sei nichts gewesen - und obwohl ihre Knieschoner nicht rechtzeitig aus Russland eingetroffen waren. Sie wollte unbedingt spielen und griff zu einem Ersatzpaar, erinnert sich Paterlini.

Nach dem Rücktritt vom Eis trainierte sie zunächst die U-18-Juniorinnen der Schweiz. Nun leitet sie, nicht einmal zwei Jahre nach dem Ende ihrer aktiven Karriere, die sportlichen Belange von Europas Eishockeyklub mit dem größten Zuschaueraufkommen und muss den 16-maligen Schweizer Meister nach der abgebrochenen Spielzeit durch die Coronavirus-Pause lotsen. "Verrückt!", sagt sie.

Wie verrückt ihre Mission tatsächlich ist, zumal zu diesem Zeitpunkt, wird durch ihren persönliche Schicksalsschlag deutlich. Im Februar 2019 wurde Schellings Leben buchstäblich auf den Kopf gestellt: Bei einem schweren Skiunfall in Davos zog sie sich einen Genickbruch zu, es drohten bleibende Schäden. Monatelang musste sie im Bett bleiben und lernte sich selber besser kennen. "Ich kam von 200 auf 0 herunter und musste mich intensiv mit mir selber auseinandersetzen." Sie machte sich Gedanken über ihre Zukunft und erkannte: "Ich möchte im Sport bleiben. Und eine Managementposition im Sport."

Irgendwann will Florence Schelling eine Biografie verfassen. Egal, wohin der Karriereweg beim SC Bern noch führt, ist eines schon jetzt klar: Ihre Geschichte hat Bestsellerpotenzial.

© SZ vom 26.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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