Eishockey-Finale bei Olympia:Die Steigerung von Wahnsinn

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Die deutschen Eishockey-Männer feiern den Einzug ins Finale. (Foto: AFP)
  • Das deutsche Eishockey-Team erreicht erstmals ein olympisches Finale - Gegner am Sonntag (5.10 Uhr MEZ) sind die Olympischen Athleten aus Russland.
  • Der Erfolg beruht auf der Arbeit von Bundestrainer Marco Sturm.
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Von Johannes Schnitzler

Gibt es eine Steigerung von Wahnsinn? Nach dem 4:3 im Viertelfinale gegen Weltmeister Schweden hatte der deutsche Torwart Danny aus den Birken gesagt: "Einfach nur Wahnsinn. Was für ein Gefühl! Was für ein Spiel!" Das war am Mittwoch. Am Freitag, 48 Stunden später, kauerte aus den Birken auf seinen dicken Torwartschonern auf dem Eis im Gangneung Hockey Centre, er sah aus wie betäubt: Die deutsche Eishockey-Nationalmannschaft steht nach einem 4:3 (1:0, 3:1, 0:2)-Sieg gegen Kanada erstmals in einem olympischen Finale! Gegner im Spiel um Gold sind am Sonntag (5.10 Uhr MEZ) die Olympischen Athleten aus Russland, die Tschechien 3:0 besiegten.

Deutschland! Steht! Im! Finale!

Das Spiel gegen den Rekord-Olympiasieger Kanada war die sechste Partie innerhalb von neun Tagen für das Team. Müdigkeit? "Das ist das Spiel des Jahres, des Jahrzehnts, des Jahrhunderts", hatte aus den Birken gesagt. Müdigkeit? Gibt es nicht. Eine Chance? Eigentlich auch nicht. Und plötzlich führten sie 3:0. Brooks Macek (15.). Matthias Plachta (24.). Frank Mauer (27.), ein technisches Sahnestück. 3:0! Gegen Kanada! Auf den Reporterplätzen gingen allmählich die Ausrufezeichen aus.

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Nach dem sensationellen 4:3-Sieg gegen Kanada kann das deutsche Eishockey-Team erstmals Olympiasieger werden. Im Finale ist der Gegner der Favorit - doch die Mannschaft von Marco Sturm glaubt an sich.

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Silber ist jetzt bereits sicher, der größte Erfolg in der Geschichte des deutschen Eishockeys. "Hört sich sehr gut an", sagte Verteidiger Christian Ehrhoff. Wer vor Turnierbeginn nur an ein Halbfinale mit Deutschland zu denken gewagt hätte (und unvorsichtig genug gewesen wäre, diesen Gedanken laut zu äußern), wäre unverzüglich auf seine geistige Unversehrtheit hin untersucht worden. Stattdessen wird Marco Sturm wohl einen Orthopäden brauchen, wegen der vielen Schulterklopfer. Er habe mittlerweile drei Telefone, sagte der Bundestrainer: "Die waren alle drei voll."

Wer nach Gründen für den Aufschwung einer Sportart sucht, die in Deutschland hinter Fußball die nach Zuschauerzahlen populärste Teamsportart ist, seit Jahren aber ein Nischendasein fristet, landet zunächst einmal bei dem Umstand, dass Kanada wohl am meisten darunter litt, dass die nordamerikanische Profiliga NHL den Spielbetrieb diesmal nicht für Olympia unterbrach; zwar mussten auch andere Länder auf NHL-Profis verzichten, aber wohl keins auf so viele wie Kanada, das seine Auswahl überwiegend aus Osteuropa-Legionären rekrutierte. Man kommt dann aber ganz schnell zu dem 39 Jahre alten Bundestrainer aus Niederbayern. Unter Marco Sturm, der selbst mehr als 1000 Mal in der nordamerikanischen Profiliga NHL gespielt hat, erreichte die Mannschaft des Deutschen Eishockey-Bundes (DEB) zwei WM-Viertelfinals und qualifizierte sich für Pyeongchang.

Und nun: Finale. Präsident Franz Reindl sagt: "Marco weiß, wie's geht." Sturm ist, das hat er selbst gesagt, kein Messias. Er ist, um im Bild zu bleiben, der Engel, der den Hirten verkündete: Fürchtet euch nicht! Glaubt. Glaubt an euch! "Dieses Wort hängt groß in unserer Kabine", erzählte Kapitän Marcel Goc: Glaube. Um Sturms Ethos zu verstehen, muss man die Genese vom gefeierten Talent aus Dingolfing zum gestandenen NHL-Profi verfolgen. "Ich musste lange unter Druck spielen", sagte Sturm der SZ bei seinem Amtsantritt 2015. Und der Druck war enorm. "In Amerika können sich deine Karriere und dein Leben von heute auf morgen ändern. Ich kann nur meine Arbeit kontrollieren, und die werde ich hundertprozentig machen." Jetzt, nicht einmal drei Jahre später, kann man einige seiner Glaubenssätze mit dem Istzustand abgleichen: "Die Jungs wissen, dass ich immer ein Teamspieler war. Das erwarte ich jetzt auch von meinen Jungs." Oder: "Wir müssen wieder einen Kern der Mannschaft finden. Wir brauchen Leader. Die älteren Spieler müssen diesen Weg mit mir gehen." Und: "Ich will eine klare Nummer eins im Tor."

Vor dem Turnier in Pyeongchang sah die Sache so aus: Sturm hatte keinen der sieben deutschen NHL-Profis zur Verfügung, keine klare Nummer eins, und seine älteren Spieler wie Goc, Ehrhoff oder Patrick Reimer spielten eine durchwachsene Saison in der deutschen Liga. Aber sie sind der Kern des Teams.

Wichtiger als Statistiken seien ihm "Männer, die für die Mannschaft alles geben", sagte Sturm. Und das tun sie. Sie lassen sich Pucks ins Gesicht schießen, Ellbogen an den Schädel rammen, Platzwunden versorgen. Und werfen sich frisch genäht zurück ins Getümmel. Als David Wolf gegen Schweden den x-ten Schlagschuss blockte, patschte aus den Birken dem Stürmer auf den Hintern. Danke, Mann. "Teamgeist ist manchmal mehr wert als individuelles Talent", sagte der zu Turnierbeginn kritisch beäugte Torhüter. Gegen Kanada stand der 33-Jährige wieder im Tor. Gegen das Hochgeschwindigkeitsprojektil von Gilbert Brulé (29.) war er allerdings machtlos. Doch da sind ja noch die Mitspieler: Powerplay, Patrick Hager fälscht ab, 4:1 (33.). Neunter Torschuss, viertes Tor, dazu zwei Pfostentreffer.

Kanada reagierte brutal: Brulé knockte Wolf mit einem Check gegen den Kopf aus. Für den Profi des chinesischen KHL-Klubs Kunlun Red Star war das Spiel vorbei, Wolf wurde benommen in die Kabine geführt. Ein Schock. Aber die Deutschen sammelten sich schnell. "Wir spielen super", sagte Mauer in der zweiten Pause: "Wir müssen nur an uns glauben."

Zum letzten Drittel kam Wolf zurück. Glaube. Hingabe. Adrenalin.

Die Kanadier erhöhten das Tempo. Matt Robinson verkürzte auf 4:2 (43.). Plachta musste auf die Strafbank, 4:3 (50.). Dann Strafe gegen Frank Hördler. Zwei Minuten Schwerstarbeit. Überstanden. Noch sieben Minuten. Noch sechs. Noch fünf. Noch vier. Noch drei. In den Glauben kroch allmählich Erschöpfung.

2:22 Minuten vor dem Ende nahm Kanadas Coach Willie Desjardins seinen Torhüter für einen sechsten Feldspieler vom Eis. Noch zwei Minuten. Noch eine. Noch ein Schuss. Noch eine Parade von aus den Birken. Und dann - stand Deutschland im Finale. Auf der Bank schüttelte Marco Sturm den Kopf.

Sogar der Trainer fand das 4:3 später "unglaublich", die letzten zehn Minuten seien "doch sehr hart" gewesen. Anders als Hans Zach, der das Team um den Spieler Sturm Anfang des Jahrtausends unter die Top Acht der Welt führte, ist Sturm ein leiser Trainer auf der Bank. Anders als das System des freundlichen Schweizers Jakob Kölliker funktioniert seines aber nicht nur auf der Taktiktafel. Anders als Pat Cortina, unter dem das Team Olympia 2014 in Sotschi verpasste, hat er Rückhalt in Team und Verband. "Er gibt uns Vertrauen, das Gefühl, dass wir es draufhaben", sagt Yannic Seidenberg: "Wenn er was sagt, glaubt man das."

So wie Sturm einst Darryl Sutter glaubte, seinem ersten NHL-Coach in San Jose. "Er war knallhart. Aber ich habe gelernt, wie man arbeiten muss, um in Amerika zu überleben. Für diesen Trainer wäre ich durch die Wand gelaufen." Nun laufen seine Spieler für ihn durch jede Wand.

Wie einst Klinsmann beim DFB kam auch Sturm ohne Erfahrung als Trainer ins Amt

"Die Anforderungen, die Marco ans Umfeld hat, sind schon enorm", sagt DEB-Präsident Reindl. Sturm kann sich die Kompromisslosigkeit leisten. Wie einst Jürgen Klinsmann beim DFB kam er ohne Erfahrung als Trainer ins Amt. Reindls Idee. Marco macht das schon. Charmant. Aber konsequent. Wenn die Möglichkeiten seinen Ansprüchen nicht genügen, fordert er Verbesserungen. Mit der Unterschrift unter einen neuen Vertrag bis 2022 zögerte er bis kurz vor dem Abflug nach Pyeongchang, solange, bis Reindl ihm seine Wünsche erfüllte: "Wir wollten ein Signal setzen, dass wir nicht auf Ergebnisse schauen, sondern unabhängig davon sagen: Das ist unser Mann." Dass die Arbeitsbedingungen vermutlich nie sein werden wie in Kanada oder in den USA, weiß Sturm. Aber nur, wer sich Ziele setzt, kommt voran. Das Ziel am Sonntag heißt nun - Gold.

David Wolf sagte: "Wir glauben an uns."

© SZ vom 24.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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