Schwimmen:Eine Beurlaubung, die Frust auslöst und Fragen aufwirft

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Im Zentrum des Verfahrens: Thomas Kurschilgen, ehemaliger DSV-Leistungssportdirektor. (Foto: Kleindl/Eibner/Imago)

Das neue DSV-Präsidium beurlaubt Leistungssport-Direktor Thomas Kurschilgen. Angeblich, weil er Missbrauchs-Vorwürfen nicht korrekt nachgegangen sein soll. Oder steckt etwas anderes dahinter?

Von Claudio Catuogno

Die Stimmung schwankte vielerorts zwischen Erstaunen, Entsetzen und Ernüchterung, als die deutschen Olympia-Schwimmer am Mittwochmorgen zum Training erschienen. Da hatte die Nachricht, die offiziell noch gar keine ist, längst die Runde gemacht. Thomas Kurschilgen, 60, Direktor Leistungssport im Deutschen Schwimm-Verband (DSV), ist vom Vorstand um den neuen Präsidenten Marco Troll ... tja, was genau? Beurlaubt - bei vollen Bezügen? Gekündigt? Wenn ja, außerordentlich - mit welcher Begründung?

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Kurschilgen war am Mittwoch für die SZ nicht zu erreichen. Und eine Anfrage beim DSV-Pressesprecher, nachdem als erstes die Bild-Zeitung über die Freistellung berichtet hatte, erbrachte als Reaktion nur einen Satz: Wegen des schwebenden Verfahrens könne man sich nicht äußern. Was immerhin eine indirekte Bestätigung ist, dass es ein Verfahren gibt.

Diverse Amtsträger waren am Dienstagabend jedenfalls im Rahmen einer Videoschalte über die Freistellung informiert worden. Die Schwimmerinnen und Schwimmer wurden dann von Trainern informiert, die es teilweise auch nur vom Hörensagen wussten. Die vorherrschende Reaktion: noch mehr Frust im ohnehin schon frustbeladenen Pandemie-Olympia-Jahr.

Wenn ein Spitzenverband wenige Monate vor den Spielen den wichtigsten Leistungssport-Organisator aus dem Spiel nimmt, nimmt er zwangsläufig vieles in Kauf: verunsicherte Aktive, Reibungspunkte in den Abläufen, finanzielle Unsicherheiten. Es klingt wie eine jener wiederkehrenden Episoden, bei denen sich der deutsche Schwimmsport immer kurz vor den Höhepunkten selbst versenkt.

Was noch dringlicher die Frage nach den möglichen Gründen aufwirft.

Ein Zusammenhang liegt nahe zu den Schlagzeilen, die den Verband Ende der vergangenen Woche erschüttert hatten. Da hatte der Spiegel mit Berufung auf mehrere, teils ehemalige Schwimmerinnen Vorwürfe gegen den langjährigen Würzburger Stützpunkt-Coach Stefan Lurz, 43, erhoben, der als Honorar-Bundestrainer auch für die Freiwasser-Schwimmer zuständig war. Lurz soll Sportlerinnen sexuell genötigt haben, anzügliche SMS-Nachrichten werden ihm ebenso angelastet wie Übergriffe an Schutzbefohlenen. Die Würzburger Staatsanwaltschaft hat von Amts wegen die Ermittlungen aufgenommen. 2010 war schon einmal ein Ermittlungsverfahren gegen Lurz geführt und am Ende eingestellt worden. Auf mehrere SZ-Anfragen zu den neuen Vorwürfen hat Lurz nicht reagiert, im Spiegel hat er alle Vorwürfe bestritten.

Ein geschilderter Fall alarmierte die DSV-Führung offenbar besonders: So soll eine Sportlerin im März 2019 in einer Mail an Kurschilgen geschildert haben, wie Lurz sie sexuell genötigt habe (was Lurz bestreitet); sie habe zudem weitere Namen von Betroffenen genannt, hieß es. Hintergrund der Freistellung, schreibt der Spiegel, sei nun der Vorwurf, Kurschilgen habe auf diese Hinweise nicht angemessen reagiert. Tatsächlich hatte der DSV am Freitag - ohne Lurz namentlich zu nennen - in einer wortreichen Stellungnahme seine Verantwortung bekundet, Lurz wurde beurlaubt, kurz darauf trat er zurück. Darüber, wie Kurschilgen oder andere 2019 reagiert haben sollen, stand nichts in der Stellungnahme.

Dokumentiert ist sein Vorgehen aber durchaus, etwa beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), der damals auch in den Fall eingebunden war. Personen, die mit den Untersuchungen vertraut waren, versichern der SZ, alles sei formal so abgelaufen, wie es auch das erst später verabschiedete Präventionskonzept des DSV vorsieht. Demnach übergab Kurschilgen die Hinweise dem damaligen Beauftragten für die Prävention sexueller Gewalt, der führte vertrauliche Gespräche, der DOSB und andere wurden informiert. Die Staatsanwaltschaft ermittelte - sah aber keinen Anfangsverdacht für strafbare Handlungen und stellte das Verfahren ein.

Reicht es, sich ans Protokoll zu halten, wenn junge Sportlerinnen womöglich in Gefahr sind, mindestens seelisch schweren Schaden zu nehmen? Das Ergebnis ist aus heutiger Sicht in jedem Fall unbefriedigend: Stefan Lurz stand bald wieder am Beckenrand.

Kurschilgen hatte den Verband gemeinsam mit einem Interims-Präsidium relativ straff geführt

Das Thema ist heikel, und niemand im Kreis der Aktiven will den Eindruck erwecken, sportlicher Erfolg rechtfertige irgendwelche Kompromisse beim Thema sexueller Missbrauch. Aber diese Frage stellen schon viele: Ist hier womöglich auch ein Vorwand gesucht worden, um Kurschilgen loszuwerden? Einen Mann, der vorher beim Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) und beim DOSB in Führungsrollen tätig war, den viele als hoch kompetent beschreiben, aber nur wenige als konziliant - der aber in jedem Fall hinter dem jüngsten Aufschwung des deutschen Schwimmens steht?

Zumindest stehen Fragen im Raum. Ende November 2020 wurde das neue DSV-Präsidium um Marco Troll gewählt, den Präsidenten des Badischen Schwimm-Verbands, es besteht vor allem aus Vertretern der Landesverbände. Erklärtes Ziel des neuen Teams war es, den Landesverbänden wieder mehr Einfluss zu sichern. Zuvor hatte Kurschilgen den Verband gemeinsam mit einem Interims-Präsidium relativ straff geführt - und gehört dem Vorstand bis heute an. Die Frage, ob und wie man ihn absetzen könnte, soll laut Anwesenden mehrmals relativ offen diskutiert worden sein.

Eine Anfrage, ob das zutrifft, ob also tatsächlich schon vor Bekanntwerden der Spiegel-Vorwürfe im Fall Lurz eine Ablösung von Kurschilgen von Präsidiums-Mitgliedern erwogen oder vorangetrieben worden sei, beantwortete der DSV am Mittwochnachmittag ausweichend, aber doch auch recht vielsagend: "Bereits vor personellen Entscheidungen zur Kandidatur bei der Mitgliederversammlung 2020" seien "im Kreis der Landesverbände Zielsetzungen für einen neuen Vorstand (unabhängig von dessen Besetzung) erarbeitet" worden, "mit deren Hilfe aus der Perspektive der Landesverbände notwendige Verbesserungen im Deutschen Schwimm-Verband angestrebt werden sollten". Diesen klaren Auftrag setze der neugewählte Vorstand "nun um" und betrachte "hierbei auch die Neuordnung von übergangsweisen Strukturen". Dies geschehe "unabhängig von der Besetzung einzelner Positionen".

Mehr will man vorerst nicht sagen, es ist halt ein schwebendes Verfahren - wobei die Frage ist, wem es am Ende auf die Füße fällt.

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