Dopingfall Claudia Pechstein:Das Geheimnis des Blutes

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Im umstrittensten Dopingfall der jüngeren Sportgeschichte dehnt sich der Expertenstreit aus: Ein hochrangiger deutscher Blutexperte entlastet Pechstein und diagnostiziert eine angeborene Anomalie.

Werner Bartens

Claudia Pechsteins Blut birgt offenbar viele Geheimnisse. Anders ist kaum zu erklären, dass führende Blutexperten zunächst äußerten, sie sähen keine medizinischen Gründe für die verdächtigen Werte im Blut der Eisschnellläuferin - und nun deutlich für Pechstein Stellung beziehen. Zu diesen Wissenschaftlern zählt Gerhard Ehninger, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie.

"Bei Frau Pechstein wurden Veränderungen des roten Blutbildes gefunden, die nicht zu Doping passen und mit großer Wahrscheinlichkeit für eine angeborene Störung im Aufbau der roten Blutzellen sprechen", sagt Ehninger, Chefarzt für Blut- und Krebserkrankungen an der Technischen Universität Dresden. Er legt sich auf die Diagnose fest: "Diese Formstörung (Sphärozytose) liegt in einer leichten Form vor und führt zu einem erhöhten Zellumsatz mit kürzerer Überlebenszeit. Die Erhöhung der Retikulozyten - der frisch aus dem Knochenmark ausgeschwemmten roten Blutzellen - ist Ausdruck der gesteigerten Blutbildung und nicht durch Doping bedingt."

Das Blut der 38-jährigen Pechstein war immer wieder untersucht worden. Im Vorfeld der Weltmeisterschaften im norwegischen Hamar wurde der Wert der Retikulozyten am 6. Februar 2009 mit 3,49 Prozent bestimmt. Die Internationale Eislaufunion (ISU) gibt für die Vorläuferzellen der Roten Blutkörperchen jedoch nur 0,4 bis 2,4 Prozent als normal an.

Am folgenden Tag lagen die Retikulozyten bei 3,54 und 3,38 Prozent - elf Tage später waren sie hingegen in den normalen Bereich von 1,37 Prozent gefallen. Am 1. Juli 2009 wurde Pechstein von der ISU für zwei Jahre - beginnend am 9. Februar 2009 - gesperrt. Der Internationale Sportgerichtshof Cas in Lausanne bestätigte das von Pechstein angefochtene Urteil am 25. November 2009.

"Ich hatte immer wieder gesagt, dass Pechsteins erhöhte Retikulozyten für Doping sprechen - wenn sich keine medizinische Erklärung dafür findet", sagt Gerhard Ehninger. "Dann muss man jetzt auch den Mut haben und sagen, dass es durchaus medizinische Gründe gibt." Weitere Blutanalysen und Aktenstudien haben Ehninger und andere Ärzte zu der Neubewertung gebracht. Die Sphärozytose kommt bei weniger als einem Prozent der Bevölkerung vor.

Dabei nehmen die roten Blutzellen - verursacht durch einen Membrandefekt - die Gestalt einer Kugel statt der üblichen flach-konkaven Form an. Dadurch werden sie schneller in der Milz abgebaut, und die Nachproduktion wird stimuliert, weshalb vermehrt Retikulozyten entstehen. "Im Gegensatz zum Doping mit Epo sind die kleinen Erythrozyten bei Sphärozytose mit einer normalen Menge des Blutfarbstoffs Hämoglobin beladen, was zu einer erhöhten Konzentration führt", sagt Ehninger. Der entsprechende Messwert sei bei Pechstein erhöht - dies sei für die Sphärozytose typisch, aber eben nicht für Doping mit Epo.

Wolfgang Jelkmann, Direktor des Instituts für Physiologie der Universität Lübeck, wird noch deutlicher. Er war als Blutexperte im Fall Pechstein vor der ISU wie vor dem Cas tätig und sagt: "Nach der medizinischen Faktenlage hätte Frau Pechstein freigesprochen werden müssen.

Aus ihren Messwerten der vergangenen zehn Jahre lässt sich Doping mit Epo oder analog wirkenden Substanzen nicht belegen. Im Gegenteil, viele Messwerte widersprechen eindeutig einem Blutdoping." Jelkmann listet 15 Fehler im Cas-Urteil auf - vielleicht liegt es auch daran, dass er sich von den Sportrichtern nicht ernstgenommen fühlte.

Auch Ehninger beklagte, dass der Cas "die vorgelegten Gutachten nicht ausreichend gewürdigt, falsch zitiert und in der schriftlichen Urteilsbegründung tendenziell dargestellt" habe und dass "die Zweifel am Dopingvorwurf durch Fachleute für Bluterkrankungen keine Berücksichtigung" fanden. Auf die Frage, wie er es sich erkläre, dass bei zwei weiteren deutschen Eisschnellläufern am Wochenende erhöhte Retikulozyten festgestellt wurden, sagt Ehninger, man müsse den Fall Pechstein "isoliert betrachten".

Winfried Gassmann, Chef der Hämatologie am Marienkrankenhaus Siegen, hat gar - ohne Auftrag und Bezahlung - ein 32-seitiges Gutachten erstellt, weil er "sich verpflichtet fühlt, der Pechstein'schen Retikulozyten-Problematik auf den Grund zu gehen". Nach diversen Versuchen, Dopingspuren nachzuweisen, kommt er zu dem Schluss, dass "keine Belege für Blutdoping welcher Art auch immer zu finden" seien.

Ehningers neue Einschätzung der Causa ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil der erfahrene Chefarzt Vorsitzender der Fachgesellschaft der Blutexperten ist. Im August 2009 hatte Ehninger in der SZ noch zu den Auffälligkeiten in Pechsteins Blut erklärt: "Erst hieß es geheimnisvoll, es seien medizinische Gründe - das hätte man an einem Tag beim Hämatologen klären können. Jetzt sind es plötzlich die Geräte."

Seine Meinung öffentlich zu revidieren, ist manchmal ein Ausdruck von Größe. Es kann aber auch auf einem Trugschluss beruhen - je nachdem, welche Geheimnisse das Blut von Claudia Pechstein noch bereithält.

© SZ vom 12.03.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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